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Zappelphilipp und Chaosprinzessin weltbekannt

Unser Wiener Kolumnist, der Heilpädagoge Gerhard Spitzer, rückt ein «populäres Defizit» ins rechte Licht.

Bild: © Shutterstock

Der neunjährige Marcel aus St.Gallen ist ein geradezu professioneller Chaot. Das merkt man nicht nur, wenn man versucht, etwas Wichtiges in seiner Schultasche zu finden, sondern – oh Graus – vor allem bei einem vorsichtigen Blick in sein Zimmer. Nicht einmal die Aktivisten von Greenpeace wollen dort noch hineinschauen: «Zu gefährlich!», meinen die.

Behinderung?

Doch am meisten fällt Marcels stark unkonzentrierte und andauernd zappelige Art auf. Und das nicht nur daheim, sondern natürlich auch in der Schule: Vroni M., Marcels Klassenlehrerein, klingt wegen all dieser Eigenheiten besorgt: «Ob der Bub vielleicht eine Behinderung hat, wie beispielsweise ADHS?»

Dagegen begehrt mein notorisches Beraterherz erstmal reflexartig, aber behutsam auf: «Aber, liebe Frau Kollegin! Wer wird denn gleich das Wort ‹Behinderung› für so einen liebenswerten Wirbelwind in den Mund nehmen? Sagen wir doch besser es ist … na ja, vielleicht bloss Marcels ‹Wesensart›?»

Einschätzung?

Die etwas kategorische Einschätzung durch Lehrerin Vroni ist kein Einzelfall: Für die Pädagogin ist der Bub – zumindest bis zu unserem damaligen Gespräch – ein weiterer Kandidat für die nun schon weltbekannte «Krankheits-Diagnose» ADHS, in Worten: Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Eine maximal ausgereizte Wortkreation, würde ich sagen, die übrigens aus den 80er- Jahren stammt, namentlich aus der Feder eines Amerikaners, dem Psychiater Dr. Leon Eisenberg.

Allerdings ist der Begriff «Zappelphilipp-Syndrom» in der Schweiz weitaus geläufiger und mittlerweile bereits fast in aller Munde. In Schulen, bei Eltervereinigungen und in nahezu allen Medien wird hochfrequent darüber geredet.

Pandemie?

Also fühlt es sich aktuell so an, als wäre hier eine weltweite Hyperaktivitäts-Pandemie im Anrollen. Ein mysteriöses «ADHS-Virus» scheint bei immer mehr Familien, vor allem bei solchen mit augenscheinlich allzu hektischem, unkonzentriertem Nachwuchs, einzuschlagen, fast wie eine Mode-Erscheinung. Leider wird das Störungsbild dabei viel zu oft als «Erkrankung» oder eben gleich als «Behinderung» angesehen. Aber ich kann Sie in mehrfacher Hinsicht beruhigen: Ich halte es in vielen Fällen für keine «Krankheit» oder gar für eine «Behinderung», ja nicht einmal so sehr für ein «Defizit». Aber davon weiter unten.

Zur weiteren Beruhigung für Sie, liebe Freunde meiner Kolumne, blase ich jedenfalls hiermit erstmal kurzerhand den Pandemie-Alarm ab und lasse damit die berühmte «Kirche im Dorf»: Bitte, liebe Eltern und Lehrpersonen, machen Sie sich diesbezüglich keine allzu grossen Sorgen mehr! ADHS ist mitnichten ansteckend und breitet sich daher auch keineswegs lawinenartig aus. Vielmehr ist «echtes ADHS» mit einer seit Jahrzehnten relativ konstanten Häufigkeit von drei bis maximal fünf Prozent unter  der Schweizer Bevölkerung ein eigentlich altbekanntes Phänomen.
So! Das wäre geklärt!

Vielseitig?

Eine Frage bleibt aber für viele sicherlich dennoch offen: Warum häufen sich denn augenscheinlich die «Fälle» in Schweizer Klassen- und Kinderzimmern?

Ich glaube: Es werden sehr oft bloss einzelne unpassende Verhaltensmuster, wahrgenommen, die dann zur Einstufung «Krankheit» oder «Störung» führen können: «Schaun Sie doch! Das Kind zappelt so viel, das muss wohl ein Zappelphilipp sein!»
Doch so einfach ist es leider nicht …

Wenn unser Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten,
dann wären wir so einfach, das wir es nicht verstehen könnten.
Jostein Garder

Von ADHS kann man erst dann sprechen, wenn mindestens fünf bis sieben deutliche Symptome schon längere Zeit gemeinsam auftreten und dabei wirklichen Leidensdruck verursachen. Es ist also, kann man sagen, ein ziemlich «vielseitiges» Störungsbild, das die Fachleute deswegen auch mit der etwas sperrigen Beifügung «multifaktoriell» versehen. Aus dem gleichen Grund wird beim Themenkreis ADHS auch der Begriff «Symptom-Cluster» in allen medizinischen Handbüchern geführt.

Bereicherung?

Ein «wirkliches» ADHS ist somit nicht nur keineswegs einfach zu diagnostizieren, sondern verdient eben auch keine leichtfertigen Feststellungen. Auch für unseren chaotischen Marcel hat es bis dato keine klare Diagnose gegeben. Lehrerin Vroni hat das sofort akzeptiert und steht mittlerweile in regem Austausch mit uns, weil sie Marcels Wesensart nun viel besser einschätzen und damit bisweilen auch wertschätzen kann. Immerhin sind hyperaktive Kinder nicht immer eine Belastung, sondern können, bei richtigem Umgang, durchaus sehr oft auch eine wirkliche Bereicherung für ihr Umfeld sein! Eines sind diese Menschen jedenfalls alle nicht: Langweilig! Vom Terminus «Behinderung» hat man sich auch an Marcels Schule schon lange entfernt. Man kann Pädagoginnen wie Vroni M. für diese Sinnes-Offenheit durchaus Dank aussprechen! … was ich übrigens auch getan habe!

Vielleicht sind ja Sie, liebe Leser von FamilienSPICK, auch einmal in der Lage, bei Ihrem eigenen oder einem fremden Kind ein besonders chaotisches, unkonzentriertes, hektisches, zerstreutes oder schlicht «störendes» Verhalten festzustellen. Wenn Sie möchten, schauen Sie dann diesem Treiben doch ein Weilchen mit ihrem jetzigen, neuen Blickwinkel zu und erkennen vielleicht etwas ganz anderes als ein blosses Fehlverhalten, Defizit oder gar eine Erkrankung. Hypersensible Persönlichkeiten wie diese werden dann Ihr ehrliches Interesse sicherlich sofort spüren und manch ein spontanes, aber gewinnendes Lächeln mit Ihnen austauschen. Sie werden es mögen!

Kein Zweifel?

Es darf hinterfragt werden: Ist jedes länger andauernde stressig-chaotische Verhalten wirklich gleich ein Zappelphilipp-Syndrom? Sicher treffen einige «Faktoren», die von ADHS bekannt sind, durchaus  auf viele Kinder zu. Aber auch für Mediziner ist es keineswegs einfach, ADHS oder ADS zweifelsfrei festzustellen oder auszuschliessen.

«Plastisches» Gehirn

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen von einem «plastischen Gehirn», welches sich ein Leben lang umformt und neu orientiert. Seit Neuestem weiss man, dass nicht unser Gehirn über unser Leben bestimmt, sondern es sich vielmehr danach richtet, wie wir es hauptsächlich gebrauchen.

Unser Gehirn ist nichts  Anderes als ein Sammelort für  Gebrauchsspuren.    William James

Was liegt also näher, als durch entspannten Umgang mit ADHS-betroffenen Kindern manch eine positive Veränderung herbeizuführen?

Zappelphilipps Top-Tipps

  • Vermeiden Sie möglichst, die «Schwächen» Ihres Kindes durch andauernde Erwähnung auch noch aufzuwerten: «Musst du denn überall hinaufklettern?»; «Du könntest ja, wenn du nur wolltest …!»
  • Denken Sie daran, dass ein von ADHS betroffenes Kind ohnehin mit arg mangelndem Selbstwertgefühl zu kämpfen hat. Daher sind stille Anerkennung  und Lob wichtige Werkzeuge für einen entspannten Umgang.
  • Lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn jemand  über Ihr Kind etwas von «Störungsbild», oder «Erkrankung» erwähnt. Es könnte eine sehr einseitige Wahrnehmung sein.
  • Sollten Sie an eine Diagnostik oder Therapie denken, bitte stellen Sie sicher, ob der aktuelle Leidensdruck auch wirklich bei Ihrem betroffenen Kind liegt oder nur bei seinem Umfeld. Das macht einen enormen Unterschied …
  • Ihr Kind ist chaotisch oder unkonzentriert? Bestärken Sie bitte Ihr Kind konsequent darin, möglichst  lange bei ein und derselben «spannenden» Sache zu verweilen.

Defizit oder Benefit?

Weil die Natur für jedes Defizit immer einen Ausgleich sucht, kann ADHS auch immense Vorteile in sich bergen: So stehen Kindern mit ADHS zumeist ungeahnte, manchmal schier unerschöpfliche Energien, sprachliche Eloquenz und besondere kreative Begabungen zur Verfügung. Es gilt nur, diese zu erkennen. Wenn Kinder mit ADHS in «ihrem Element» sind, werden  Sie erstaunt sein, welch hohe Auffassungsgabe und Begeisterungsfähigkeit, anstatt negativer Auffälligkeiten, plötzlich im Vordergrund stehen.

Wenn Sie es verstehen, das wahre Potenzial Ihres ADHS-Kindes zu entdecken und richtig zu fördern, werden Sie später einen jungen Erwachsenen  erleben, der mit höchster Hingabe und unglaublicher Entwicklungsfähigkeit seine Aufgabe meistert.

Für Marcel wird es später jedenfalls nicht von Nachteil sein, wenn Ihm sein schon immer dagewesenes inneres Chaos allzu vertraut ist. Es gibt viele Berufe, die «stressfeste» Persönlichkeiten geradezu händeringend suchen.