Bei Schulschwierigkeiten leidet die ganze Familie. Dabei ist jedes Kind weit mehr als nur ein Schüler! Doch: Halten Sie den Kopf hoch – es gibt Auswege aus dem Dilemma.
Wenn Schule stresst
Ursprünglich hatte sie ja gar nichts mit Zwang und Unfreiheit zu tun, die liebe Schule. Das Wort selbst kommt vom lateinischen «schola», das sich wiederum vom griechischen «scholé» ableitet. Eigentlich bedeutete es demnach «Frei sein von Geschäften». Gemeint war im antiken Griechenland die Musse des freien Bürgers für die geistige Bildung. Bald aber bezeichnete das Wort auch den Ort, an dem diese Bildung stattfand. Bildung, freiwillig und Freiheit voraussetzend, war lange Zeit nur den oberen Ständen zugänglich. In der Zeit des Humanismus dann, vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, bildeten sich Gelehrtenschulen heraus und bald darauf entwickelte sich so etwas wie eine allgemeine Schulpflicht. Wirklich für alle Angehörigen einer bestimmten Altersgruppe verpflichtend wurde der Besuch einer öffentlichen Schule dann allerdings erst mit der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919. Im Klartext hiess das: Alle Kinder mussten zwar unterrichtet werden, aber nicht alle wurden dies in einer öffentlichen Schule. Spätestens der Moment aber, in dem ein Kind zur Schule gehen musste, dürfte die Geburtsstunde von Schulfrust und Schulstress gewesen sein.
Die Lehrer versuchten damals noch guten Gewissens, ihre Ziele mit Prügelpädagogik durchzusetzen. Sie schlugen die Schüler, wenn sie gegen die Disziplin verstossen hatten, und sie schlugen sie noch mehr, wenn sie etwas nicht konnten und nicht verstanden. Schüler reagierten darauf nicht selten mit Wut, ja sogar ihrerseits mit Gewalt. Auch viele Jahre später sah es noch nicht besser aus. In «Ein Proletarierleben» erzählt der 1866 geborene Franz Bergg, mit Stock, Rohr, Peitsche, mit Hand, Faust und Fuss, ja sogar mit einer Prügelmaschine sei auf allen Teilen des Schülerleibes herumgearbeitet worden. Manche Kinder habe man zur Schule schleppen und mit Stricken festbinden müssen. Sicherlich gab es auch viele, die gerne zur Schule gingen, immerhin erfuhren sie dort Interessantes, und sie konnten Freundschaften pflegen. Dennoch ist unübersehbar, dass Schule für manche Kinder auch früher schon eine Last war. Dass sie es bis heute geblieben ist, erstaunt fast schon. Es hat sich doch so vieles geändert: Längst gibt es keine Prügelpädagogik mehr, längst auch keine Pädagogik à la Struwwelpeter. Moderne Medien haben Einzug in die Schulen gehalten. Die Lehrpersonen werden an Universitäten ausgebildet, Lehrpläne ständig überarbeitet. Was ist denn für heutige Schüler so schrecklich an der Schule?
Schulfrust und Schulstress heute
Wie der Hirnforscher Manfred Spitzer nicht müde wird zu betonen, gelingt Lernen am besten, wenn es Spass macht, wenn man nicht ständig gegen Frust und Widerwillen ankämpfen muss. Wer sich aber unter Eltern schulpflichtiger Kinder und unter den Schülern selbst umhört, stellt fest, dass das Stöhnen über Schulstress eher die Regel als die Ausnahme ist. Fragt man danach, worin dieser Stress sich denn äussere, erhält man eine Vielfalt von Antworten. Diese Vielfalt ist bunt und reicht von «Das Thema Hausaufgaben ist in unserer Familie täglich Anlass für Streit», über «Jeden Morgen dasselbe Theater: Mein Kind will nicht in die Schule gehen», bis «Ich würde wirklich gerne etwas lernen, aber doch nicht so wie in der Schule» oder «Mein Sohn war ein wissbegieriges, lernwilliges Kind – so lange, bis er in die Schule kam.» Egal, in welche Richtung die Klagen gehen – wenn die Schule als negativ, als stressig empfunden wird, sind die Folgen vorprogrammiert: Die Noten gehen in den Keller, das Kind versagt, die Eltern sind hilflos oder organisieren Nachhilfe. Auch wenn die Kosten für Nachhilfe das Familienbudget recht belasten, sind viele Eltern bereit, sich den schulischen Werdegang ihres Sprösslings viel Geld kosten zu lassen.
Ob es nun die Hausaufgaben sind, die zur Qual werden, ob es die Nachhilfe ist, die kaum noch bezahlt werden kann, ob es die Klassenwiederholung ist, die für Verdruss sorgt – eines gilt so gut wie immer: Die Situation wird in den betroffenen Familien als belastend empfunden, die Lebensqualität nimmt ab. Phasen der Missstimmung, Verkrampfung, Verzagtheit, Angst und manchmal gar Verzweiflung nehmen zu. Und sogar wenn es nicht zwingend zur Verzweiflung führen muss – wer in der Schule schlecht ist, erlebt sich selbst als Versager. Ein schulisch schlechtes Kind vergleicht sich mit anderen und stellt fest, dass seine Leistungen nicht mit den Erwartungen der Umwelt, sprich: Eltern, Lehrpersonen etc. mithalten können. Es erlebt sich selbst als ausgeschlossen von der Gruppe der «guten», der «normalen» Kinder. Von der Umwelt erhält es recht schnell den Stempel «faul», «dumm» oder «unkonzentriert». Die anderen Kinder lachen womöglich, Lehrer und Eltern sind ratlos, enttäuscht, aufgebracht. Immer wieder suchen die Eltern verständlicherweise auch nach medizinischen Gründen für das Versagen, womöglich erhält das Kind Medikamente. Dennoch lässt sie sich oft nicht aufhalten, die für alle sichtbare Form des schulischen Versagens – das Sitzenbleiben.
Erfolgssuche auf anderen Gebieten
Wer keinen Erfolg in der Schule hat, leidet nicht nur, sondern er weicht aus. Er sucht den Erfolg an anderer Stelle. Wem es vergönnt ist, der tut dies, indem er eine besondere Begabung auslebt. Wer ein besonderes Interesse verspürt, stürzt und stützt sich auf sein Hobby, seine Leidenschaft. Wer aber keine Leidenschaften hat, muss sich anderes suchen, um das Gefühl des Erfolges zu verspüren. Dass, wer keine Erfolge, keine Perspektive spürt, auch eher gefährdet ist, sich auf Rauchen, Alkohol, andere Drogen oder gar kriminelle Handlungen einzulassen und sich so zumindest zeitweise Erfolgserlebnisse zu verschaffen, ist hinlänglich bekannt. Zumindest in den letzt-genannten Fällen ist der Übergang vom persönlichen zum gesellschaftlichen Problem fliessend. Wenn in einer Gesellschaft vielen Menschen nichts als Erfolgslosigkeit bleibt, gibt dies nicht nur Anlass zu Mitgefühl, sondern auch zu Angst.
Angst um die Zukunft des Kindes
Viele Eltern können es kaum glauben, wenn ihr Kind schulische Erwartungen nicht erfüllt oder nicht erfüllen kann. Sie schämen sich. Mein Kind – ein Schulversager! Schrecklich! Doch selbst Eltern, die es schaffen, sich davon zu distanzieren, nimmt die schulische Minderleistung ihres Kindes oft enorm mit. Sie sind nun mal liebende Eltern. Und liebende Eltern haben die Zukunft im Auge. Sie befürchten, dass alles bergab geht. Dass das Kind den gewünschten Schulabschluss – Sekundarschule, Lehrabschluss, Gymnasium, Matura – nicht schafft. Dass es überhaupt keinen Abschluss schafft. Dass es auf der Strasse steht. Natürlich ist diese Befürchtung nicht unbegründet. Bei den meisten Bewerbungen wird grosser Wert auf den Schulabschluss gelegt. Da kann ein Bewerber noch so qualifiziert, noch so geeignet, noch so motiviert sein – zu einem Vorstellungsgespräch kommt es erst gar nicht.
Man kann Eltern also keinen Vorwurf machen, dass ihnen die schulischen Leistungen ihres Kindes am Herzen liegen. Aber man kann ihnen nahelegen, die schulischen Probleme ihres Kindes nicht zum zentralen Familienthema werden zu lassen, den Teufel nicht ständig an die Wand zu malen, Verkrampfung als Gift und Gelassenheit als Segen anzusehen, wobei Gelassenheit nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist. Und während Eltern versuchen, ihr Kind anzunehmen, so, wie es jetzt gerade ist, können sie mit einem Quäntchen Gelassenheit versuchen, den Ursachen der Misere auf die Spur zu kommen.
Der «falsche» Zeitpunkt
Nicht jeder Mensch ist fähig und bereit, Leistung genau dann zu erbringen, wenn sie in der Schule gefordert wird. Ja, bei vielen fällt der Zwanziger später, wie man so schön sagt. Es gibt nun mal Kinder, die längere Zeit brauchen zu reifen, die plötzlich einen Schub machen, die dann leistungsmässig sogar förmlich explodieren. Ihnen drückt die Schule oft zu früh einen Stempel auf. Remo H. Largo, ehemaliger Professor für Kinderheilkunde und 30 Jahre lang Leiter der Abteilung für Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich, betont wieder und wieder ein Hauptergebnis seiner Arbeit: Menschen entwickeln sich unterschiedlich – ob es sich um die Schlafdauer, die ersten Schritte, die ersten Worte, um die Sauberkeit von Kleinkindern, um motorische Fertigkeiten usw. handelt. Besonders in der Schule wird diese Individualität zum Problem, denn Kinder werden dort ja nach Jahrgängen zusammengefasst. Sie sind zwar weitgehend gleich alt, aber auf sehr unterschiedlichen Entwicklungsniveaus. Wenn die geforderte Leistung den Entwicklungsstand des Kindes überfordert und somit einfach nicht der richtige Zeitpunkt im Lernprozess des Kindes ist, dann wird das Kind in seinem Selbstvertrauen verletzt. Es verliert seinen natürlichen «Entdeckungsdrang» für die Umwelt und wird in seinem «Lernwillen» eingeschränkt. Schule sollte vermehrt auf jedes einzelne Kind eingehen. Sparmassnahmen und allerlei Integrationsbemühungen gehen jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Umso wichtiger ist es also, dass Eltern ihre Kinder stützen, dass sie ihnen Vertrauen und damit Zeit geben, sich selbst und ihre Leistung zu finden!
Lernen ist nicht gleich Lernen
Vielen Schülern fehlt es an den notwendigen Voraussetzungen, um überhaupt effizient zu lernen. Sie können sich schlecht konzentrieren, haben keine Ausdauer und wissen nicht, wie sie an Aufgaben herangehen können. Manche sitzen oft stundenlang über ihren Schularbeiten, ohne etwas zustande zu bringen. Oft wissen sie nicht, wie sie ihre Mathe-Textaufgaben lösen, Rechtschreibung und Vokabeln behalten oder einen Sachtext so lesen können, dass er im Gedächtnis bleibt. Sie haben also keine Ahnung, wie man richtig lernt und erleben das Lernen an sich immer wieder als frustrierend. Sie müssen zuerst «das Lernen lernen». Wenn Eltern sehen, dass es an dieser Stelle hapert, haben sie zwei Möglichkeiten. Sie versuchen selbst, ihrem Kind zum richtigen Lernen zu verhelfen und riskieren damit Stress, Frust und Tränen. Oder sie nehmen die Hilfe von Fachleuten in Anspruch. Es gibt immer wieder Workshops zum Thema, manchmal sogar an der Schule des eigenen Kindes, manchmal auch unter Einbeziehung der Eltern. Eltern sollten bedenken, dass es vielleicht nur der Initialzündung bedarf.
Motivationsverlust
Wer selten Erfolgserlebnisse verbuchen kann – weder in Worten beispielsweise mit Lob noch mit Taten wie guten Noten –, kann im Laufe der Monate und Jahre zu einer regelrechten Motivationskrise kommen, die dann auch noch einen Teufelskreis nach sich zieht: Weil der Schüler keine Motivation mehr hat, lernt er schlecht. Weil er schlecht lernt, bekommt er schlechte Noten. Weil er schlechte Noten hat, traut er sich selbst nichts mehr zu. Weil er sich selbst nichts mehr zutraut, fällt es ihm immer schwerer, sich selbst zu motivieren usw. Manchmal hilft es schon, wenn Eltern das Gespräch mit den Lehrpersonen suchen. Diese sind oft dankbar dafür, wenn Eltern ihnen einen Blick in die Seele eines Schülers gestatten, der ihnen im Schulalltag verwehrt ist. Oder wenn sie etwas erfahren, dass nicht sichtbar, aber dennoch wahr ist. Es gibt viele Situationen, in denen ein Eltern-Lehrer-Kontakt hilfreich sein, vielleicht gar die Wende bringen kann. Manchmal aber scheint schulisch über lange Strecken der «Wurm» drin zu sein. Dann können Eltern versuchen, nicht auch noch selbst an der Demotivations- und Selbstwertverlust-Schraube zu drehen. Dann können sie ihrem Kind zur Seite stehen, anstatt es zu verurteilen. Nichtsdestotrotz werden Eltern es wohl kaum schaffen, den Klassen- bzw. Schulgeist oder gar eine Lehrkraft zu ändern. All das auf den Mond zu wünschen ist verständlich, verspricht aber wenig Erfolg. Es bleibt den Eltern im Einzelfall überlassen, wie sie reagieren. Setzen sie darauf, dass ihr Kind es trotz widriger Umstände packen wird? Oder versuchen sie, die Umstände durch einen Klassen- oder Schulwechsel zu verbessern?
Kopf hoch! Die Schule funktioniert nun mal so, dass Erfolg erwartet wird. Bei Misserfolg ist Sorge angesagt. In den seltensten Fällen können Lehrer ihre Schüler auffangen, indem sie sagen: «Keine Sorge, wir packen das! Wenn nicht so, dann anders!» Doch wie entlastend könnte es für manchen Schüler sein, zu hören «So schlimm ist das auch wieder nicht!» oder «Jedem geht mal was daneben.» Oder «Aus Fehlern kann man lernen.» Das Ganze lächelnd vorgetragen und nicht mit einer Weltuntergangs-Miene. Wer beizeiten lernt, mit Schwierigkeiten im Allgemeinen und mit persönlichen Schwächen im Speziellen normal, ja positiv umzugehen, ist fürs Leben besser gewappnet als der, der mit dem Gefühl gross wird, es müsse alles glattgehen und Fehler seien etwas Schreckliches. Zum Glück ist nicht alles intellektuelle Welt: Wer schlecht in Mathe oder Deutsch ist, kann vielleicht im Sport oder im Zeichnen brillieren. Wir müssen die Stärken der Kinder suchen und sie an der Stelle aufbauen, wo sie Perspektiven haben!
* Heidemarie Brosche, Lehrerin und Mutter dreier Kinder, ist Autorin von zahlreichen Kinder- und Sachbüchern.