3.5 Prozent aller Menschen in der Schweiz leiden im Laufe ihres Lebens unter einer Essstörung – der Grundstein dafür wird häufig bereits in der Kindheit gelegt. Die Mentorin Andrea Ammann hat sich auf Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert. Im Interview erzählt sie von ihrer langen Leidensgeschichte, wie sie den Absprung nach vielen missglückten Versuchen geschafft hat – und mit welchem Beispiel sie ihren drei Töchtern vorangehen will.
Wenn der Körper nach Hilfe schreit
Andrea Ammann, alles begann mit der Magersucht, nachdem Sie vergewaltigt wurden. Anschliessend litten Sie fast 20 Jahre an Bulimie. Unzählige Male haben Sie versucht, davon loszukommen. Sie sind gescheitert. Und gescheitert. Haben verschiedenste Therapien – auch stationäre – gemacht. Im Jahr 2004 sind Sie endgültig davon losgekommen. Was war anders als bei den anderen Malen?
Es waren verschiedene Ansätze, die mich dazu gebracht haben, «aufzuhören». Die grösste Motivation waren tatsächlich meine zwei Töchter. Ich wollte ihnen ein Vorbild sein als Frau und Mutter, auf welches sie stolz sein können, auf welches sie sich verlassen können und vor allem wollte ich ihnen nicht den Weg verbauen mit meinen krassen Gedanken, der Kontrolle und dem Beherrschtsein rund ums Thema Essen.
Das tönt in der Theorie schön und gut. Dies in die Praxis umzusetzen, ist jedoch ein anderes Thema.
Ich habe viel daran gearbeitet, die alles beherrschende Gedankenstruktur ums Essen, die in der Sucht fast 24 Stunden am Tag hochaktiv ist, zu umgehen, um die Ruhe im Kopf anfangs über kurze, dann über immer längere Zeiträume zurückzuholen. Ich habe mich aber auch mit meinen wirklichen Zielen und Träumen in meinem Leben verbunden, sie wieder in mein Bewusstsein zurückgeholt. Dies war für mich ein wichtiger Punkt auf dem Weg zurück zu mir selbst: Meine Ziele zu haben und diese zu leben. Nicht die Ziele meines Umfelds, der Arbeit oder der Familie zu übernehmen.
Gab es noch weitere Faktoren?
Ein weiterer, für mich sehr wichtiger Punkt war der, dass ich den Kampf gegen die Bulimie und auch den Kampf gegen mich selbst und das Leben an sich gestoppt habe und stattdessen in die Erlaubnis gegangen bin. Dieser Punkt verändert auch heute noch so viel, in der Arbeit mit den Frauen, die ich begleite. Wenn die Essstörung nicht mehr als Feind angesehen wird, verändert sich schon automatisch ganz viel in der «Beziehung» dazu. Vieles darf sich zeigen und losgelassen werden.
Sie haben drei Töchter. Bei Ihrer ersten war die Sucht noch Ihr täglicher Begleiter. Wie ging die Familie damit um?
Mein damaliger Mann hat es gewusst. Aber er wusste nicht, wie er damit umgehen soll. Er wollte mir helfen, Tipps geben, Möglichkeiten aufzeigen. Leider sind die Partner sehr oft total überfordert und machen mit ihren ehrlich und äusserst liebevoll und gut gemeinten Vorschlägen noch viel mehr Druck. Meine Ehe hat tatsächlich unter der Sucht gelitten. Beziehungsweise erst dann, als ich auf dem Weg zurück zu mir selbst war und die Sucht aufgegeben habe. Da wurde es richtig schwierig, denn ich habe mich natürlich verändert, habe Dinge nicht mehr einfach geschluckt. Das hat dann auch zu immer grösseren Disharmonien und schlussendlich zur Trennung und Scheidung geführt.
Wie hat sich Ihre Krankheit im Hinblick auf die Kinder gestaltet?
Bei meiner ersten Schwangerschaft war ich noch süchtig. Da ich ein sehr disziplinierter Mensch bin, habe ich trotz allem immer sehr darauf geachtet, dass ich neben meinen «Abstürzen» gute Vitamine und wertvolle Nährstoffe zu mir nehme, um dem ungeborenen Kind möglichst viel Gutes mitzugeben – immerhin physisch. Ich habe es fast 1.5 Jahre gestillt, habe die Abstürze so gelegt, dass es dann geschlafen hat. Das ist zu einem grossen Teil aufgegangen. Aber nicht immer. Dann gab es natürlich viel Stress.
Auch bei Ihrer zweiten Tochter war die Bulimie Ihr ständiger Begleiter.
In der Schwangerschaft habe ich sogar ein erstes Mal versucht, mich von meinem Mann zu trennen. Das war dann aber unmöglich. Wir haben eine Paartherapie besucht, gewisse Abmachungen getroffen und es nochmals zusammen versucht. Auch den Kindern zuliebe war ich vernünftig und habe der Ehe nochmals eine Chance gegeben. Als meine zweite Tochter im Frühling 2004 fünf Monate alt war, habe ich mich entschieden, nach fast 20 Jahren in der Essstörung definitiv auszusteigen. Es wurde mit zwei Kindern und der Sucht fast unmöglich, alles irgendwie noch auf einem meinen Ansprüchen entsprechenden Level weiterzuführen. Die dritte Tochter habe ich vor 4.5 Jahren zur Welt gebracht. Die erste Schwangerschaft ganz frei von irgendeiner Sucht, einer Einschränkung oder sonstigen Belastungen.
Wie hat Ihre Krankheit die Kinder geprägt? Gerade bei Töchtern ist Figur und Aussehen in der Pubertät ja besonders wichtig.
Das ist richtig. Ich habe die Mädchen nach meiner Scheidung viele Jahre allein erzogen. Mir war es wichtig, sie in ihrem Selbstwert, in ihrer Eigenständigkeit und in ihrer freien Entwicklung und Entscheidung zu stärken und zu unterstützen. Ich habe ihnen viel Freiheit zugestanden und beim Essen einfach auf ein abwechslungsreiches Angebot geachtet. Nicht irgendwie extrem, einfach ganz «normal», ohne Verbote und ohne Einschränkungen. Da ich seit meinem Ausbruch aus der Bulimie vor fast 20 Jahren auch das Verhältnis zum Essen normalisiert habe, war ich den Mädchen in diesem Bereich ein gutes Vorbild. Der gemeinsame Familientisch einmal am Tag ist mir extrem wichtig und das erachte ich immer noch als total wertvoll.
Sie sagen, dass Eltern mit gutem Vorbild vorangehen sollten. Wie schafft man das?
Essen soll nie als Gefühlsregulator eingesetzt werden, wenn ein Kind wütend oder frustriert ist. Essen soll auch nie als Belohnung eingesetzt werden. Beispielsweise, wenn ein Kind sagt, dass es satt ist, sagen Eltern oft: «Iss jetzt den Teller leer, dann bekommst du noch einen Nachtisch.» Weiter sollen Eltern ihren Kindern schon von klein auf Vertrauen schenken, sie in ihrer Selbstständigkeit fördern und unterstützen und ihnen echte, bedingungslose Liebe schenken. Verbal und nonverbal. Auch wenn sie Mist bauen. Und dazu die Kinder in ihrem Selbstvertrauen stärken! Essen, fressen, hungern oder kotzen in der Essstörung sind «nur» Symptome, da gibt es ganz viele Nebenschauplätze, die in der Balance sein müssen. Erst, wenn die Disharmonie, der Selbstwert, die ehrliche, vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern nicht gefestigt ist, kann ein Kind/Jugendlicher meiner Meinung nach eine Essstörung oder eine andere Sucht-Thematik überhaupt entwickeln.
Gibt es noch weitere Gründe, damit eine Essstörung entsteht?
Oft fängt es schon ganz früh im Kleinkindalter an, wenn die Eltern ihr Kind mit Süssigkeiten belohnen fürs Aufessen oder um eine Gefühlsintensität wie Frust, Wut oder Trauer zu «dämmen». Das heisst, die Kinder verlernen so immer mehr, auf ihr Wissen und ihr Sättigungsgefühl zu hören, weil die Eltern den Kindern immer und immer wieder vorschreiben, was sie jetzt tun, essen oder fühlen sollen. Das Kind verlernt so mit der Zeit, sich selbst, seinen Gefühlen und seiner Wahrnehmung zu vertrauen. Das sind oft schon ganz fatale Eingriffe in die Entwicklung des Kindes und können, je nach Charakter des Kindes, ganz schlecht ausgehen. Zuungunsten des Kindes und seiner freien Entwicklung. Diese Kinder fühlen sich dann beispielsweise irgendwann plötzlich zu dick, zu unsportlich und werden dafür gehänselt. So überlegen sie sich, was sie dagegen tun könnten, um von ihren Mitschülern, Lehrpersonen, aber auch von den Eltern, wieder positiv wahrgenommen, geliebt, wertgeschätzt und geachtet zu werden.
Mit welchen Folgen?
Daraus kann sich irgendwann eine extreme Selbstdisziplin, massiver Bewegungsdrang, übermässiger Sport, viel weniger essen, Ausreden, warum sie nicht zum Essen zu Hause sind etc. entwickeln. Diese Kinder interessieren sich dann plötzlich total für gesunde Küche, essen keine Süssigkeiten mehr oder bekochen die Familie wie wild und essen selbst nichts davon. Oft geht es einher mit massiv gesteigertem Bewegungsdrang oder extremer sportlicher Aktivität. Es gibt wirklich sehr viele verschiedene Einstiege und Anfänge in eine Essstörung und nicht alles, was ich angetönt habe, deutet gleich auf den Beginn einer Essstörung hin. Manches ist tatsächlich auch harmlos.
Das Anfangsstadium ist also sehr heikel.
Richtig. Aus diesem Grund habe ich einen Vortrag zur Frühprävention und Sensibilisierung für Eltern entwickelt, mit welchem ich gern bereits in der Unterstufe die Eltern für das Thema sensibilisieren will. Je früher wir anfangen, die Eltern aufzuklären, umso mehr Kinder können wir vor einem langen Leidensweg bewahren. Und das ist definitiv eines meiner zwei grossen Ziele – nebst dem zweiten Ziel, den betroffenen Frauen den Weg aufzuzeigen, der es ihnen ermöglicht, auch nach etlichen gescheiterten Therapien, nach erfolglosen stationären Aufenthalten und 5, 10, 20 oder noch mehr Jahren in der Bulimie, endgültig aus der Essstörung auszusteigen.
Welche Begleitung für Kinder und deren Eltern bieten Sie noch an?
Mit Eltern von betroffenen Kindern oder Jugendlichen kläre ich zuerst in einem gemeinsamen Gespräch mit den Eltern ab, wie die Familiensituation ausschaut, wo das Kind steht, seit wann die Sucht besteht und welches mögliche Schritte sein können, um das Kind positiv zu unterstützen und vor allem mental und im Selbstwert zu stärken. So kann es sein, dass ich vorerst nur mit den Eltern weiter zusammenarbeite und mit ihnen Strategien erarbeite, um zuallererst wieder in eine vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Kind zu kommen. Wenn diese Verbindung wieder stabil und intakt ist, kann hier aufgebaut und das Sucht-Thema, beziehungsweise die Hintergründe dazu, beim Kind in Angriff genommen werden. Bei einer zerrütteten Eltern-Kind-Beziehung arbeite ich meist direkt mit den Kindern und Jugendlichen und baue mit ihnen auch sehr schnell ein vertrautes Verhältnis auf. Selbstverständlich übernehme ich solche Begleitungen erst nach einem Info-Gespräch und gegenseitigem O.K., dass wirklich etwas verändert werden will an der Situation.
Sie bieten auch eine Prävention in Schulen an.
Ja, genau. Meine Tochter im ersten Lehrjahr hat nach dem Essen zu mir gesagt: «Mama, du müsstest eigentlich in jeder Berufsschulklasse mit den Mädchen eine Lektion zur Prävention machen … Besser schon in der 6. Klasse, damit sie wissen, was da alles passieren könnte.» Ich habe eine tolle Präsentation für Eltern-Abende zusammengestellt, um ihnen Tipps und Erste-Hilfe-Inputs an die Hand zu geben im Umgang mit Suchtthematiken. Um sensibilisiert zu sein in diesem Thema, aber auch um zu wissen, wie sie reagieren sollen und wie nicht, wenn sie vermuten, dass ihr Kind beispielsweise an Bulimie leidet.
Wie wichtig ist diese Frühprävention?
Ich denke, dass hier ein sehr wertvoller Teil steckt, um den Kindern den mühsamen Weg durch eine Sucht zu ersparen. Den Eltern wird damit schlussendlich viel Leiden und Mitleiden erspart, wenn ein Kind dann wirklich in der Sucht gefangen ist. Oft können Eltern später gar nicht mehr viel machen, wenn ihr Kind in die Essstörung reinschlittert. Da braucht es Zeit. Liebe. Geduld. Da sein. Gelassenheit und Erlauben. Und auch viel Aushalten. Dies wünsche ich definitiv niemandem. Weder den betroffenen Frauen noch Eltern von betroffenen Kindern! Ein weiteres Ziel von mir ist es, für die Frühprävention und die Workshop-Lektionen mit Schulen und Suchtberatungsstellen zusammenzuarbeiten, um noch viel mehr in diesem Bereich bewegen zu können. Denn hier gibt es definitiv noch viel zu tun und aufzuklären.
Zur Person
Andrea Ammann wurde 1972 in Steckborn geboren und absolvierte eine Lehre als Hochbauzeichnerin.
Fast 20 Jahre litt sie unter Bulimie. Sie hat drei Töchter und seit 2016 begleitet sie Frauen mit Essstörungen und Figurproblemen. 2020 will sie nebst diversen Beratungen die Präventionsarbeit für Eltern und Workshops an Schulen weiter ausbauen.