Viele Kinder und Jugendliche stehen mit der Mathematik auf Kriegsfuss und kommen im Unterricht nicht mehr mit. Dabei hat das Jonglieren mit Zahlen und Formeln durchaus seinen Reiz. Doch wo liegt das Problem?
Null Bock auf Mathe
Eine kleine Rechenaufgabe zu Beginn: Um ein Ei weich zu kochen, braucht es – sagen wir mal – drei Minuten. Wie lange brauchen acht Eier? Die Auflösung zu dieser Aufgabe sparen wir uns auf den Schluss dieses Beitrages auf. Dazwischen steht das Rechnen, die Mathematik, im Zentrum. Mathematik ist viel mehr als das Einmaleins in der Schule, als Zahlenreihen, Bruch- und Wurzelberechnungen, als abstrakte Algebra. Sie hat viel mit dem Menschsein zu tun. Die Arbeit mit Zahlen hilft uns, uns in der Umwelt zurechtzufinden. Mathematik gehört zum ältesten und wichtigsten Kulturgut der Menschheit. Vieles, das heute selbstverständlich erscheint, gäbe es nicht. Der Alltag ist voller mathematischer Phänomene und Wunder, die oft nicht bewusst wahrgenommen werden.
Mit Mathe auf Kriegsfuss
Ein bekanntes Phänomen, dem man vor allem in der Schule begegnet, ist die Ablehnung gegenüber dem Fach Mathematik. Nur für die wenigsten der Schülerinnen und Schüler ist die Mathematik ein Lieblingsfach. Im Gegenteil: Nicht wenige Kinder und Jugendliche stehen mit Satzrechnungen, Brüchen und Algebra auf Kriegsfuss. So zum Beispiel auch Marco (Name geändert), der in einem Internetchat sein Herz ausschüttet: «Ich habe morgen eine grosse Matheprüfung. Mathe und ich haben schon immer Krieg der Welten gespielt, schon seit der ersten Klasse. Ich bekomme das einfach nie so wirklich auf die Reihe, auch wenn ich noch so viel lerne. Immer, wenn es auf Arbeiten und Prüfungen zugeht, habe ich regelrechte Panikattacken und Albträume …» Nicht nur Marco, sondern auch viele andere Schülerinnen und Schüler brauchen in Sachen Mathematik Unterstützung. Nur 62 Prozent von ihnen erreichen am Ende der obligatorischen Schulzeit die Grundkompetenzen. Zu diesem Schluss kam eine Studie der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) im letzten Jahr. Sie untersuchte bei den Schülerinnen und Schülern die Grundkompetenzen bei den Sprachen und der Mathematik, die im Jahr 2011 in den Bildungszielen festgelegt wurden. Nur drei von fünf Jugendlichen erreichten die Grundkompetenzen. Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind beträchtlich. Teilweise erreichen weniger als die Hälfte der Schulabgänger die Ziele im Fach Mathematik. Die Studienergebnisse zeigten weiter, dass individuelle Merkmale der Jugendlichen wie Geschlecht, soziale Herkunft, Migrationsstatus und die zu Hause gesprochene Sprache einen Effekt haben, wie gut die Schülerinnen und Schüler die Grundkompetenzen erreichen.
Wissens- und Verständnislücken
Die Tatsache, dass Mathematik vielen Schülerinnen und Schülern Bauchschmerzen bereitet, ist für Elsbeth Stern, Professorin am ETH-Institut für Lehr- und Lernforschung in Zürich, nichts Neues. «Mathematik bereitete in der Schule schon seit jeher den Kindern und Jugendlichen Mühe.» Die Professorin nennt dazu drei Gründe: Mathematik ist im Schulsystem ein zentrales Fach mit grossem Gewicht in der Notengebung. Zudem steigen mit jedem Schuljahr die Anforderungen. «Das Erfolgserlebnis ist in Mathematik meist weniger ausgeprägt als etwa beim Lesen und Schreiben. Deshalb ist es nicht einfach, die Schüler für Mathematik zu begeistern.» Hinzu kommt, dass in der Mathematik die einzelnen Inhaltsbereiche stark aufeinander aufbauen. Bestehen in einem Bereich Verständnisoder Wissenslücken, machen sich diese in den nachfolgenden Kapiteln bemerkbar. Als Lerncoach beobachtet Bettina Dénervaud, Co-Präsidentin bei Schule und Elternhaus Bern und Mutter von zwei Söhnen im Alter von 12 und 14 Jahren, wie bereits acht- und neunjährige Kinder erste Probleme im Umgang mit Zahlen, insbesondere mit den Zahlenreihen, haben. «Das Problem taucht meist dann auf, wenn die Kinder den Zehnerraum verlassen und die Rechenaufgaben nicht mehr mit ihren bisherigen Taktiken, etwa dem Rechnen mithilfe der Finger, lösen können. » Beim Einstieg in den Hunderterraum hängen offenbar die ersten Schülerinnen und Schüler ab. Kommt das Bruchrechnen an die Reihe, machen sich die Defizite aus den vorherigen Kapiteln deutlich bemerkbar.
Zu wenig Repetition
Wo liegt das Problem? Weshalb bereitet das Jonglieren mit Zahlen vielen Kindern und Jugendlichen derart Kopfzerbrechen und schlaflose Nächte? Und wie können Schülerinnen und Schüler im Gymnasium noch besser auf den Unterricht zu anspruchsvollen Inhalten in Mathematik und Physik vorbereitet werden? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt einer vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Studie, die von der ETH Zürich durchgeführt wird. Elsbeth Stern sieht im abstrakten Umgang mit Zahlen eine der Hauptschwierigkeiten vieler Schülerinnen und Schüler. «Viele verstehen nicht, dass zum Beispiel zwischen zwei Brüchen unendlich viele andere Brüche liegen. Und in Algebra kommen manche mit dem X als Variable nicht zurecht.» Vielleicht brauche es im Mathematikunterricht eine stärkere Individualisierung und vor allem mehr Zeit, damit die Kinder und Jugendlichen mit den abstrakten Formeln besser zurechtkommen. «Der Unterricht geht – so mein Eindruck – manchmal zu schnell vorwärts und nimmt zu wenig Rücksicht auf jene Schüler, die mehr Zeit oder einen anderen Zugang zum Thema bräuchten», sagt Stern. Ähnlich tönt es vonseiten der Lernberaterin. Bettina Dénervaud vermisst, was früher in der Schule noch mehr gepflegt wurde: die Repetition. «Wir haben die Zahlenreihen immer wieder und wieder geübt. Heute fallen diese Repetitionsphasen viel kürzer aus. In der Folge vergessen die Kinder vieles wieder.» Weiter kritisiert Dénervaud die Theorie des spiralförmigen Lernens, das – so die Lernberaterin – ein flüchtiges Lernen fördere. Anstatt ein Thema sauber durchzuziehen, werde vieles nur kurz eingestreut, um gleich wieder zum nächsten Kapitel eines reich befrachteten Lehrplans zu kommen. «Dieses flüchtige Lernen ohne Wiederholungen ist verheerend für das Gehirn. Dabei weiss man bereits seit über zehn Jahren, dass diese Art der Wissensvermittlung nicht zielführend ist», sagt Dénervaud.
Mathematikunterricht ist verbesserungswürdig
Auch Elsbeth Stern sieht in den Lehrmitteln für Mathematik Handlungsbedarf. Die vielen Kästchenaufgaben, bei denen viele Rechenaufgaben hintereinander aufgelistet werden, seien nicht nur verwirrend, sondern oftmals immer nach dem gleichen Muster ausgelegt. «Die Kinder erkennen dies bald einmal und lösen die Aufgaben immer nach dem gleichen Muster, ohne dabei variable Strategien zu entwickeln.» Stern plädiert dafür, mehr mit Textaufgaben zu arbeiten, bei denen sich keine Muster einschleichen können und das Gehirn mehr zum Denken gefordert wird. «Die Schüler sollen die Rechenthemen verstehen und erkennen, dass die Zahlen bestimmten Gesetzmässigkeiten folgen.» Dann kann Mathematik plötzlich Spass machen. Ebenfalls verbesserungswürdig sei vielerorts der Mathematikunterricht, findet Stern. «Manche Mathematiklehrpersonen gehen immer noch davon aus, dass Rechnen eine Art Spezialbegabung sei, die man entweder beherrsche oder nicht. Wer in der Klasse nicht mitkommt, wird oft zu wenig gefördert.» Ausserdem mangle es den Lehrpersonen häufig am Gefühl dafür, welche Inhalte für die Klasse schwierig sind und welche nicht.
Finalist der Mathematik-Olympiade
Einer, der einen lustvollen und unverkrampften Zugang zur Mathematik hat, ist Pepijn Cobben. Der 17-Jährige aus Uetikon am Zürichsee besucht derzeit das Gymnasium im siebten Jahr. 2020 wie auch 2019 schaffte er es ins Finale der Mathematik- Olympiade. «Ich mochte die Mathematik meist schon von Anfang an. Weil in der Primarschule jedoch viele meiner Mitschüler mit der Mathematik Mühe hatten, wollte ich nicht abseitsstehen und schloss mich ihrer Ablehnung diesem Fach gegenüber an.» Die Liebe zur Mathematik wurde Pepijn sozusagen in die Wiege gelegt. Seine Mutter arbeitet als Mathematiklehrerin und strahlte die entsprechende Begeisterung für diese Disziplin aus. Kein Wunder, brauchte ihr Sohn nur selten ihre Unterstützung bei mathematischen Themen.
Mehr Grafiken und Illustrationen
Wie erlebte Pepijn den Mathematikunterricht während seiner Schulzeit? «Einer der Hauptgründe, weshalb viele Schüler Mühe mit diesem Fach haben, ist, dass die Mathematiklehrer oft ihre Klasse zu wenig für die Materie motivieren und begeistern können.» Zudem seien die Erklärungen der Mathematiklehrer oftmals zu komplex und zu abstrakt. Es fehle der Alltagsbezug. «Meist hilft es, wenn ein schwieriges Thema visuell mithilfe von Grafiken oder anderen Medien dargestellt wird», findet der Gymnasiast und würde – wenn er Mathematiklehrer wäre – mehr mit Grafiken arbeiten. Zudem würde er mehr auf das Vorwissen der Schüler Rücksicht nehmen und sich mehr Zeit für die Vermittlung eines Themas nehmen. «Ich würde ausserdem mehr Wert darauf legen, selber einen Lösungsweg zu finden und dabei auch kreativ zu sein.» Mathematik sei durchaus kreativ, findet Pepijn, denn der Umgang mit den abstrakten Strukturen verlange einen wachen Geist und gute Ideen. All dies fasziniere ihn an der Mathematik.
Täglich zehn Minuten
Was empfiehlt die Lernberaterin Bettina Dénervaud jenen Schülerinnen und Schülern, die den Reiz der Mathematik – im Gegensatz zu Pepijn – noch nicht erkannt und mit Problemen zu kämpfen haben? «Das Gehirn liebt Wiederholungen und lernt dadurch viel schneller. Deshalb lohnt es sich, gewisse Rechenaufgaben oder Zahlenreihen jeden Tag, nur etwa während zehn Minuten, zu wiederholen.» Die Eltern sollten mit ihren Kindern dazu eine klare Abmachung treffen, eventuell sogar schriftlich, und täglich zu einer fixen Zeit die Mathe-Übung wiederholen. Wenn die Lehrperson eine Aufgabe zu wenig gut erkläre, könne man sich im Internet – zum Beispiel auf Youtube – zu vielen Themen Erklärvideos anschauen. Als Lernberaterin bringt Dénervaud den Kindern bei, das selbstständige Lernen zu automatisieren – als Hilfe zur Selbsthilfe. Bei Nachhilfestunden indes bestehe die Gefahr, dass das Kind mehr Hilfe erhält als nötig und sich dadurch nur bedingt anstrengen muss. Ausserdem sei es wichtig, nicht erst kurz vor der Prüfung zu lernen. Denn: «Das Gehirn ist dann nicht entspannt genug, um den Stoff zu verarbeiten.»
Lebensstandard von Zahlen abhängig
Auch wenn vieles in der Mathematik abstrakt ist, hat es oftmals einen direkten Bezug zum Alltag. Und es trägt wesentlich dazu bei, viele Herausforderungen im Leben, die mit Zahlen zu tun haben, erfolgreich zu meistern. «Ohne Mathematikkenntnisse würden viele von uns im täglichen Leben über den Tisch gezogen werden», bringt es Elsbeth Stern auf den Punkt. Der Lebensstandard hänge zu einem grossen Teil davon ab, mit Zahlen umgehen zu können. Aber auch in vielen Berufen spielen Zahlen eine nicht unwichtige Rolle – sei es in naturwissenschaftlichen Disziplinen, in Sozialwissenschaften oder in der Psychologie. Selbst die Juristen brauchen ein gutes Zahlenverständnis. «Die Mathematik ist die Sprache der Wissenschaft. Vieles beruht auf dem Fundament der Zahlen», betont Stern. Pepijn ist überzeugt, dass ihm die Mathematik auch später – im Studium und im Beruf – noch wertvolle Dienste leisten wird. Was er in zwei Jahren, wenn er die Matura erlangen wird, studieren will, weiss er derzeit noch nicht. «Ich interessiere mich für vieles, nicht nur für Mathematik. Auch die Medizin oder Neurologie würde mich reizen.»
Und zum Schluss noch die Auflösung zum Rechenrätsel vom Textanfang: Auch wenn man acht Eier gleichzeitig kocht, dauert es nur drei Minuten, bis die Eier weich sind …