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«Auch die Gebärdensprache kennt verschiedene Dialekte»

Jährlich kommen in der Schweiz rund 150 Kinder mit einer Hörbehinderung oder taub zur Welt. Die meisten davon sind Frühgeburten und nur 5 % kommen aus Familien mit Selbstbetroffenen. Die Beeinträchtigungen werden heute bereits häufig in den ersten Tagen nach der Geburt mit dem sogenannten OAE-Screening im Spital festgestellt. Aber auch spätere Ursachen wie Meningitis, Unfälle oder Nebenwirkungen von Medikamenten können zu Hörbehinderungen führen. Als Kommunikation dient Menschen mit einer Hörbehinderung die Gebärdensprache. Diese beherrscht auch Anika Heinrich. Sie ist selber schwerhörig und arbeitet beim Schweizerischen Hörbehindertenverband Sonos.

Bild:©Pixel-Shot/shutterstock.com

Wie drückt sich ein Baby und Kleinkind mit einer Hörbehinderung aus? Gibt es da Unterschiede zu einem hörenden Kind?

Wie jedes andere Kind macht auch ein gehörloses Kind die biologische Lallphase durch. Danach fehlt ihm aber das auditive Feedback, welches die weitere Sprachentwicklung ermöglicht und fördert. Die Stimme bei einem tauben oder hörbehinderten Kind wird also zunehmend weniger gebraucht und eine sofortige Versorgung mit effektiven Hilfsmitteln wie einem Hörgerät ist sehr wichtig, zumal die meisten hörbehinderten Kinder in «hörenden Familien» leben. Dabei werden Eltern durch HNO-Ärzte, Audiopädagogische Dienste oder Frühförderungsstellen unterstützt.

Wie sieht eine Frühförderung hörbehinderter Kinder aus? Und ab welchem Alter wird diese empfohlen?

Die bimodal-bilinguale Frühförderung in der deutschen Sprache und der Gebärdensprache eines hörbehinderten Kindes beginnt idealerweise, sobald die Eltern feststellen, dass ihr Kind eine Hörbehinderung hat. Babys können bereits ab einem Alter von 8 Monaten Gebärden aufnehmen und anwenden.

Um die Gebärdensprache in den Familienalltag einzubeziehen, sind aber viele Hürden auf dem Weg zu meistern. Im direkten Gespräch mit den Familien bemerkten wir das Bedürfnis nach mehr Lösungen. Wir stellen uns der gesellschaftlichen Verantwortung und machten es uns zur Aufgabe, ein Paket mit Lösungen zu entwickeln: Es entstand ein interaktives Lernprogramm für die Deutschschweizerische Gebärdensprache (DSGS). Ein Lernprogramm, das autonomes und spielerisches Erlernen der Gebärdensprache ermöglicht. Darin enthalten sind viele verschiedene Übungstechniken und Funktionen, die dem Nutzer, insbesondere Familien mit hörbehinderten Kindern dabei helfen, den Basiswortschatz der Deutschschweizerische Gebärdensprache mit Glossen einfach und selbstständig zu erwerben. Übungen mit Bildern für Kleinkinder erleichtern Familien die Einbeziehung der Gebärdensprache in ihren Alltag. Das Lernprogramm wird kostenlos angeboten: www.gebärdenlernen.ch

Was ist für ein hörbehindertes Kind grundsätzlich einfacher? Wenn die Eltern ebenfalls hörbehindert sind oder nicht?

Dies kann man nicht grundsätzlich sagen. Da sind verschiedene Faktoren ausschlaggebend wie zum Beispiel der Hörstatus, der Zeitpunkt der Erfassung Versorgung. Bei gehörlosen Kindern kann man sagen, dass es im Hinblick auf die Kommunikation in Gebärdensprache sicher ein Vorteil ist, wenn die Eltern auch gehörlos und gebärdensprachkompetent sind. Für die Lautsprachentwicklung ist es eher ein Nachteil, insbesondere für die mündliche Sprachproduktion.
Ich selber bin schwerhörig und in einem gehörlosen Elternhaus aufgewachsen. Meine hörende Grossmutter hat mir die Lautsprache beigebracht. Nachdem sie mich vom Kindergarten abgeholt hat, sassen wir im Wohnzimmer auf dem Sofa. Dort las sie mir Märchen u. a. vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf vor und unterhielt sich mit mir. Dadurch habe ich die Lautsprache sehr gut lernen können, was mir sonst nur durch die Unterstützung im Kindergarten, in der Schule oder durch eine externe Fachperson (Audiopädagogin) mit viel Mehraufwand gelungen wäre.

Wie wichtig ist der Kontakt zu anderen hörbehinderten Kindern?

Der Kontakt zu anderen hörbehinderten Kindern ist sehr wichtig für die Entwicklung der Identität des Kindes. Das Kind erfährt durch den Kontakt mit anderen, was die «Gehörlosigkeit», «Schwerhörigkeit» bedeutet und welche Kommunikationsformen es gibt. Unter anderem die deutsche Laut- und Schriftsprache sowie die Gebärdensprache. Für Kinder mit einer hochgradigen Schwerhörigkeit bis Taubheit ist die Gebärdensprache als eine visuelle Sprache wichtig für ihre Sprachentwicklung. Schliesslich können sie die Sprache schwer bis gar nicht über ihr Gehör wahrnehmen.

Die Schweizerische Vereinigung der Eltern hörgeschädigter Kinder, kurz SVEHK, ist hier eine wichtige Anlaufstelle für Eltern mit hörbehinderten Kindern. Bei der SVEHK treffen die Eltern auf Gleichgesinnte und haben die Möglichkeit, von den Erfahrungen anderer Eltern zu profitieren.

Wie viele Menschen in der Schweiz beherrschen die Gebärdensprache?

Die Frage lässt sich leider nicht so einfach beantworten. Auch Familienmitglieder von Menschen mit Hörbehinderung erlernen die Gebärdensprache, Lehrer an Schulen für Menschen mit Hörbehinderung, Dolmetscherinnen sowie Interessierte, welche Interesse daran haben, die Gebärdensprache zu lernen, zum Beispiel mit dem Lernprogramm von Sonos. Der Schweizerische Gehörlosenbund SGB-FSS geht von rund 30 000 bis 40 000 Personen aus, welche die Gebärdensprache beherrschen.

Gibt es in der Gebärdensprache je nach Land Unterschiede? Vielleicht sogar wie in der gesprochenen Sprache verschiedene Dialekte?

Ja, die Gebärdensprache ist wie gesprochene Landessprachen weltweit unterschiedlich. In der Schweiz gibt es drei verschiedene Gebärdensprachen: Deutschschweizerische (DSGS), Französische (LSF) und Italienische Gebärdensprache (LIS). Darüber hinaus gibt es innerhalb der Deutschschweiz fünf Dialekte: Zürich, Bern, Basel, Luzern und St. Gallen. Ausserdem verständigen sich die Gebärdensprachnutzer über Sprachgrenzen hinweg mit der «Verkehrssprache» International Sign Language (ISL).

Zahlen und Fakten

  • Weltweit gibt es rund 70 Millionen gehörlose Menschen. Dies sind 5 % der Gesamtbevölkerung. Weitere 360 Millionen Personen leiden unter schwerwiegendem Hörverlust. 9 % davon sind Kinder.
  • In der Schweiz sind rund 0,1 Prozent der Bevölkerung vollständig gehörlos, also etwa 10 000 Menschen. 600 000 weitere Personen sind leicht bis hochgradig schwerhörig und gelten als hörbehindert.
  • Gehörlosigkeit ist nicht grundsätzlich vererbbar. Es gibt aber Familien, in denen Gehörlosig- oder Schwerhörigkeit vermehrt auftritt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind gehörlos zur Welt kommt, ist bei gehörlosen Eltern höher als bei hörenden Eltern. 90 Prozent der Kinder von Gehörlosen Eltern sind aber hörend.
    Wir sprechen heute von «Gehörlos» und nicht mehr von «Taubstummen», denn Gehörlose sind nicht stumm. Sie sprechen mit der Gebärdensprache. Zurzeit umfasst die Gebärdensprachgemeinschaft mindestens 20 000 Personen in der Schweiz.
  • In der Schweiz gibt es drei Gebärdensprachen. Die Deutschschweizer, die Französische und die Italienische. Darüber hinaus gibt es fünf regionale Dialekte. Zürich, Luzern, Basel, St. Gallen und Bern.
    Früher besuchten gehörlose Kinder oft spezielle Schulen oder Internate. Diese Gehörlosenschulen verschwinden immer mehr, weil gehörlose Kinder immer häufiger in der öffentlichen Schule integriert werden. Viele Betroffene kritisieren dabei aber, dass das Bildungsangebot noch heute nicht Gehörlosen gerecht sei.