Rund 19 000 Kinder in der Schweiz gelten als hochbegabt. Lange Zeit wurde dafür der IQ von 130 vorausgesetzt – der gilt nun jedoch als überholt. Dennoch – oder gerade deshalb – können sich Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten in der Schule anordnen. Weshalb eine genaue Abklärung das A und O ist, erklärt Wolfgang Stern, Leiter der Anlaufstelle Hochbegabung, im Interview.
Wenn der Wissenshunger kaum gestillt werden kann
Herr Stern, den Eltern dürfte vor allem folgende Frage unter den Fingern brennen: Wie merke ich es überhaupt, dass mein Kind hochbegabt sein könnte?
Bei dieser Fragestellung muss man aufpassen, denn es gibt nicht DAS hochbegabte Kind. Darum zeigt sich Hochbegabung auch nicht immer gleich. Die im Internet vorhandenen Checklisten können allerdings eine gute Hilfestellung bei der Beobachtung der Kinder bieten. Es gibt mögliche Beobachtungspunkte bei Kleinkindern. Diese Fragen zeigen jedoch nur ein kleines Spektrum auf. Verdichten sich die Hinweise, sollte man sich an eine Fachstelle wenden.
Wenn die Eltern also eine Vermutung haben, dass ihr Kind hochbegabt sein könnte: Wie ist das richtige Vorgehen?
Ein richtiges Vorgehen gibt es nicht. Jedes Kind ist anders. Doch jedes Vorgehen beginnt zu Hause. Sie müssen sich vorstellen, dass diese Kinder einem Löcher in den Bauch fragen. Mit schnellen Antworten geben sie sich nicht zufrieden. «Dafür bist du noch zu jung» – wäre eine sehr schlechte Antwort, um die enorme Wissbegierde eines hochbegabten Kindes zu befriedigen. Eltern kommen so oft an ihr Limit, da sie nicht auf alles, sei es im Hinblick auf technische oder auch philosophische Fragen, eine Antwort haben. Wir versuchen bei unseren Beratungen, den Eltern Mut zu machen, diese Herausforderungen durch ihre Kinder anzunehmen. Dazu gehört, sich auf der einen Seite «fit zu machen», um der Wissbegierde der Kinder mithilfe von Internet, Büchern und Bekannten begegnen zu können, auf der anderen Seite aber auch mit dem Kind Spielregeln abzumachen, wann sich das Kind ohne Vater oder Mutter im Spiel oder bei anderen Tätigkeiten alleine beschäftigen soll. Im Weiteren empfehlen wir den Eltern, sich über eine Selbsthilfegruppe mit anderen Eltern von hochbegabten Kindern auszutauschen. Da können sie einander zuhören, die Sorgen loswerden und Verständnis finden, voneinander lernen, sich gegenseitig Mut machen und vieles mehr.
Was läuft bei der Abklärung genau ab?
Sie sprechen eine Potenzialabklärung durch eine Psychologin/einen Psychologen an. Bevor man sein Kind zu einer solchen Abklärung anmeldet, sollte man sich fragen, was erreicht werden soll. Potenzialabklärungen werden oft von Lehrpersonen in Absprache mit den Eltern beim Schulpsychologischen Dienst veranlasst. Damit soll zum Beispiel Klarheit geschaffen werden, weshalb ein Kind ein auffälliges Verhalten zeigt. Im anschliessenden Gespräch am «runden Tisch» besprechen Eltern, Schulpsychologin/-e, Lehrperson und allenfalls die Schulleitung das weitere Vorgehen der Erwachsenen, damit den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Kindes möglichst entsprochen werden kann. Bei einer Potenzialabklärung durchlaufen die Kinder in der Regel unter vorgegebenen Bedingungen eine oder mehrere Testserien. Im Vorfeld haben Lehrperson(en) und Eltern zuhanden der Psychologin/des Psychologen bereits je einen ausführlichen Fragebogen ausgefüllt. Aufgrund der Testergebnisse, des direkten Gesprächs mit dem Kind und der Auswertung der Fragebogen ergibt sich eine Diagnose – und daraus wiederum Empfehlungen zuhanden der Schule und der Eltern.
Wie hat sich Ihre Arbeit entwickelt?
Vor 21 Jahren, als die Stiftung für hochbegabte Kinder die Beratungsstelle Anlaufstelle Hochbegabung eingerichtet hatte, durften wir im Schnitt über 1000 Beratungen pro Jahr durchführen. In der Zwischenzeit haben viele Schulen und kantonale Stellen ein grösseres Fachwissen und können Beratungen für Eltern und Lehrpersonen selber durchführen. Unser Beratungsaufwand hat sich darum reduziert. Dafür kann sich die Stiftung vermehrt der Unterstützung von Schulen bei der Begabungs- und Begabtenförderung zuwenden: www.lissa-preis.ch
Viele haben Vorurteile, dass ein hochbegabtes Kind nur gute Noten in der Schule hat. Häufig treten aber genau da Probleme auf, wenn es den Unterricht stört oder sich nicht «konzentrieren» kann. Gibt es typische Merkmale für ein hochbegabtes Kind? Und weshalb gibt es dann Probleme beispielsweise in der Schule?
Die Förderung von hochbegabten Kindern erfordert, wie die Förderung aller anderen Kinder, eine grosse Sorgfalt durch die Lehrpersonen. Diese pädagogischen Fachleute sind heute meist auf die Vielfalt der ihnen anvertrauten Kinder vorbereitet. Auch der neue Lehrplan 21 unterstützt die Lehrpersonen bei der individuellen Anwendung des Kompetenzerwerbes für die einzelnen Kinder. Erst wenn in diesem Lernbeziehungsfeld eine Unstimmigkeit entsteht und über längere Zeit unerkannt bestehen bleibt, entwickelt das Kind «Störungen». Diese reichen von Minderleistung, Schlafstörungen, undefinierbare Magen- oder Kopfschmerzen, Schulunlust, Perfektionismus, Stören des Unterrichts oder das totale Zurückziehen. Ist ein solches Entwicklungshemmnis erkannt, sind die Erwachsenen dringend gefordert – sowohl die Eltern als Stütze für das Kind als auch die Lehrpersonen in ihrer pädagogischen Professionalität. Sie müssen herausfinden, was das Kind in seiner Entwicklung stört und anschliessend helfen, damit es wieder Vertrauen fasst und sich gemäss seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterentwickeln kann.
Wenn das Kind wirklich hochbegabt ist: Wie kann es richtig abgeholt werden? Gibt es spezielle Unterrichtsmodelle oder Kurse?
Lernen hat viel mit Beziehung und Respekt zu tun. Wenn die Lehrpersonen diesen Grundsatz leben, nehmen sie automatisch die Individualität des Kindes wahr und finden im Gespräch mit dem Kind auch den richtigen Weg für die Förderung des Kindes. Ausgehend vom Grundsatz «der erste Förderort ist der reguläre Unterricht» muss also in erster Linie die Klassenlehrperson vorbereitet sein, ein hochbegabtes Kind zu fördern und zu fordern. Gruppen-Förderangebote, wie sie viele Schulen in der Zwischenzeit für hochbegabte Kinder anbieten, sind eine wichtige Ergänzung, ersetzen aber nie die tägliche Arbeit im Klassenzimmer.
Welche Herausforderungen haben hochbegabte Kinder zu meistern? Manchmal kann es ja auch ein Fluch sein, wenn Reaktionen aus dem Umfeld ins Spiel kommen …
Gerne spreche ich auch hier die Individualität der Kinder an. Überdurchschnittliche Begabung setzt sich bei jedem Kind anders zusammen. Da das Umfeld jedes einzelnen Kindes ebenfalls höchst individuell ist, sind die Herausforderungen unterschiedlich anspruchsvoll. Da hochbegabte Kinder oft neben einem grossen Allgemeinwissen ein ausgefallenes spezifisches Wissen haben (Universum, Börse und anderes), wirken sie für die Gleichaltrigen, teilweise auch für die Erwachsenen, befremdend und unverständlich. Dies kann zu hässlichen Reaktionen führen. Lernen, damit umzugehen, ist ein Prozess, bei welchem hochbegabte Kinder meist starke Unterstützung durch kompetente Erwachsene benötigen.
Zum Abschluss: Hätten Sie vielleicht Tipps für Familien, die sich mit dem Thema befassen?
Grundsätzlich ändert sich am Familienleben nichts, wenn festgestellt wird, dass ein Kind hochbegabt ist – solange man sich in der Familie weiterhin mit Respekt begegnet und bereit für Veränderungen ist, wenn dies erforderlich ist. Trotzdem tun betroffene Familien gut daran, sich über Bücher oder Internetseiten ins Thema einzulesen. Da der Umgang mit hochbegabten Kindern auch für Eltern eine Herausforderung bedeutet, sind regelmässige Kontakte mit anderen betroffenen Eltern, wie sie beispielsweise ein Elternverein für hochbegabte Kinder bieten kann, von grossem Wert.
Zur Person
Wolfgang Stern ist ehemaliger Lehrer und Schulleiter. Er ist langjähriger Präsident des EHK (Elternverein für hoch-begabte Kinder). Er hat diverse Weiterbildungen in den USA, in Deutschland und in der Schweiz im Bereich der Begabungs- und Begabtenförderung absolviert. Seit 2001 ist er Leiter der Anlaufstelle Hochbegabung, Mitglied im Stiftungsrat seit der Gründung im Jahre 2000.