Lehrpersonen sind in der Schweiz zunehmend Mangelware. Die Ursachen sind vielschichtig. Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger könnten Abhilfe schaffen.
Zu wenig Lehrpersonen in den Schweizer Klassenzimmern
Der Personalmangel an Schweizer Schulen verschärft sich. Im Kanton Bern beispielsweise scheint die Lage besonders prekär zu sein. Die Berner Bildungs- und Kulturdirektion wandte sich kurz vor den Sommerferien 2021 in einem Rundschreiben an die Uni Bern. Laut diesem sind in den bernischen Volksschulen über 200 Stellen unbesetzt. Das sind viermal mehr als 2019. Nach den Sommerferien sei nicht sichergestellt, dass alle Schulklassen mit einer Lehrkraft starten können. Nun sollen sich schon wie in den vergangenen Jahren Studierende auf die offenen Stellen bewerben und zumindest befristet einspringen. In der Schweiz herrscht schon seit Jahren akuter Lehrermangel. «Wir gehen aber aufgrund erster Hinweise aus den Kantonen stark davon aus, dass sich die prekäre Situation weiter verschärft hat und im Vergleich zum Vorjahr noch mehr Stellen unbesetzt sind», berichtet Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH. Hinzu komme, dass der Bedarf an qualifizierten Lehrpersonen durch die Ukrainekrise weiter gestiegen ist. «Es ist wichtig zu verstehen, dass – wenn im August alle Stellen besetzt sind – dies leider nicht als Entwarnung gesehen werden kann. Die Frage ist nämlich, wie qualifiziert und damit angemessen sie besetzt wurden», gibt die LCH-Präsidentin zu bedenken.
In manchen Kantonen besonders besorgniserregend
Welche Schulstufen sind davon besonders betroffen? Wie Dagmar Rösler informiert, bekundeten im Zyklus 1 (zwei Kindergartenjahre und die ersten beiden Primarschuljahre) im Jahr 2020 42 Prozent (fast gleich wie 2019) der Deutschschweizer Schulleitungen Mühe, die Stellen der Klassenlehrpersonen zu besetzen. Im Kanton Zürich sind es sogar 55 Prozent, im Kanton Aargau 60 Prozent. In der dritten bis sechsten Klasse (Zyklus 2) sind fast die Hälfte der Deutschschweizer Schulleitenden mit zu geringen Bewerbungszahlen konfrontiert; dies entspricht laut LCH einer Verschlechterung gegenüber letztem Jahr um sieben Prozent. In manchen Kantonen ist die Lage besonders besorgniserregend: So im Kanton Aargau, wo mehr als zwei Drittel der Befragten zu wenige Bewerbungen für ihre offenen Stellen erhalten, im Kanton Bern sind es rund 80 Prozent.
Am meisten Probleme bei der Sekundarstufe I
Die grössten Probleme bei der Stellenbesetzung zeigten sich im Jahr 2020 bei der Sekundarstufe I (7. bis 9. Klasse). Hier melden über die Hälfte der Befragten in der Deutschschweiz zu wenig Bewerbungen für eine solide Stellenbesetzung, was einer Verschlechterung gegenüber letztem Jahr um sieben Prozent entspricht. In der sonst weniger von der Problematik betroffenen Westschweiz sind es sogar über 70 Prozent. Der Brennpunkt schlechthin ist – so Dagmar Rösler vom LCH – weiterhin die integrative Förderung. Hier bekunden offenbar 90 Prozent der Schulleitungen gemäss einer Befragung im Mai 2020 Mühe, adäquat ausgebildetes Personal zu finden. In der Deutschschweiz konnten im laufenden Schuljahr nur gerade 40 Prozent der ausgeschriebenen Stellen mit qualifiziertem Personal besetzt werden, im Kanton Luzern sind es sogar nur 20 Prozent. Im Fach Französisch und in der Logopädie fehlen den Schulen ebenfalls zahlreiche Bewerbungen.
Steigende Kinderzahlen
Der Lehrermangel in der Schweiz ist unter anderem auf viele Pensionierungen zurückzuführen, wie Dagmar Rösler begründet (siehe auch Interview mit der LCH-Präsidentin). Für die frei werdenden Stellen gebe es jedoch trotz steigender Ausbildungszahlen an den Pädagogischen Hochschulen zu wenig Bewerberinnen und Bewerber. Denn die Zahl der Kinder nimmt parallel zum generellen Wachstum der Bevölkerung zu. Gemäss dem Schweizer Bildungsbericht 2018 wird sich diese Situation erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts entspannen. Darum müssten die Anstellungsbedingungen verbessert werden, fordert der LCH. Lehrpersonen kündigen aus Überbelastung oder gesundheitlichen Gründen. Andere wandern in Kantone ab, in denen sie besser verdienen. Im Kanton Bern beläuft sich diese Lohndifferenz je nach Stufe und Berufserfahrung auf bis zu 10 000 Franken pro Jahr. Laut LCH muss der Lehrberuf attraktiver gemacht werden, damit er häufiger ergriffen wird und man auch im Beruf verbleibt. Erst so könne sich die Situation entspannen. Weitere Abbaumassnahmen würden die Schule hingegen schwächen.
Angebote für Quereinsteigende
Um dem Mangel an Lehrpersonen zu begegnen, wird zum Beispiel an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz seit dem Herbstsemester 2021 die Studienvariante Quereinstieg angeboten. Zum Studium zugelassen wird, wer mindestens 30 Jahre alt ist und bereits in einem Beruf tätig war. Das Bachelorstudium für Kindergarten- und Primarschulstufe dauert sechs Semester, für höhere Schulstufen braucht es ein Masterstudium. Zum neuen Quereinsteigenden-Studium «Bachelor/Master plus», das im kommenden Herbstsemester eingeführt wird, gehört, dass die Studierenden ab dem zweiten Jahr bereits in einem Pensum von 30 bis 50 Stellenprozenten unterrichten, wie Marc Fischer, Projektleiter Medien- und Öffentlichkeitsarbeit der Pädagogischen Hochschule FHNW informiert. Diese Unterrichtstätigkeit zählt als integraler Teil des Studiums und verlängert die Studiendauer nicht. «Den Studierenden werden von den Kantonen besondere Konditionen an den Schulen geboten», ergänzt Marc Fischer. So erhalten die angehenden Lehrpersonen spezielle Anstellungsbedingungen und werden professionell bei diesem vorgezogenen Berufseinstieg begleitet.
Vom Profisportler zum Lehrer
Noah Eichenberger aus Lenzburg AG gehört zu jenen Studierenden der PH FHNW, die zurzeit als Quereinsteiger den Studiengang Pädagogik absolvieren. Der 34-Jährige befindet sich im zweiten Semester und wird 2024 mit dem Bachelor abschliessen. Ursprünglich war Noah Eichenberger im Spitzensport zu Hause. Er spielte bis 28 als Profi-Volleyballer in der Nationalliga A und in der Schweizer Nationalmannschaft. Daneben studierte er an der Universität Fribourg und Bern Sportwissenschaften. «Bis dahin hatte für mich der Sport die höchste Priorität», erzählt Noah Eichenberger. Über persönliche Beziehungen erhielt er nach seiner Sportkarriere die Möglichkeit, für eine heilpädagogische Stiftung bzw. Sonderschule als Fachlehrer in den Fächern Informatik und Geografie einzusteigen. «Viele pädagogische Themen lernte ich bisher vor allem bei der praktischen Anwendung, jedoch ohne einen theoretischen Hintergrund. Ausserdem beschäftigte mich die Frage, wie ich zu einer noch besseren Lehrperson werden kann.»
Lehrerberuf als Berufung
Vor einem Jahr etwa entschied sich Noah Eichenberger deshalb für das Quereinsteiger-Studium an der PH FHNW. «Ich habe schon immer mit dem Lehrerberuf geliebäugelt. Er ist für mich ganz klar eine Berufung. Die Arbeit mit Menschen, insbesondere mit Kindern und Jugendlichen gefällt mir sehr», schwärmt der Student und ergänzt mit einem Schmunzeln: «Ich gehe auch am Montag gerne zur Arbeit, spätestens wenn ich im Klassenzimmer stehe.» Als grosse Genugtuung bezeichnet der junge Lehrer das Gefühl am Ende des Tages, wenn man den Kindern etwas beibringen konnte und bei ihnen wenn auch nur kleine Fortschritte beobachten durfte. Zurzeit absolviert Noah Eichenberger das Grundlagenpraktikum in einer ersten Sekundarschulklasse. Dort stehe er vor allem im sogenannten «Teamteaching» zusammen mit einem anderen Studenten sowie der Klassenlehrperson im Einsatz. «Die Arbeit auf dieser Schulstufe gefällt mir sehr, weil ich hier auch fachlich gefordert werde.» Unterrichtserfahrungen sammelte er aber bereits vorher als Aushilfslehrer an diversen Regelschulen. «Als ich mit dem Studium an der PH begann, wusste ich, was künftig auf mich zukommen würde», sagt der ehemalige Spitzensportler.
Intrinsisch motiviert
Wie Noah Eichenberger entscheiden sich die Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger bewusst für den Wechsel hin zum Lehrerberuf. Sie bringen viele Erfahrungen aus ihren früheren beruflichen Tätigkeiten mit ein, nehmen aber auch Entbehrungen in Kauf. «Die Studienvariante Quereinstieg ist sicherlich anspruchsvoll und benötigt viel Energie. Wir nehmen die Studierenden im Studium entsprechend als intrinsisch motiviert, aber auch konstruktiv-kritisch wahr», berichtet Marc Fischer von der PH FHNW. Um Aussagen zum Berufseinstieg zu machen, sei es indes noch zu früh, da die Studierenden nach einem ersten Jahr Grundstudium erst nach den Sommerferien ihre Teilzeit-Unterrichtstätigkeit beginnen. «Da es sich um eine neue Variante handelt, sind wir alle gespannt und neugierig auf die ersten Erfahrungen mit dem Berufseinstieg», betont Marc Fischer.
Neue Möglichkeiten und Modelle
Die Studienvariante Quereinstieg ist als Vollzeitstudium mit verringertem Präsenzanteil an der Hochschule konzipiert und führt zu einem regulären, gesamtschweizerisch anerkannten Lehrdiplom. Bei der Konzeption war zentral, dass es ein vollständiges und vollwertiges Studium ist. «Gewisse Anpassungen waren notwendig, damit die eigene Unterrichtstätigkeit, die nicht identisch mit einem Praktikum ist, als Teil des Studiums integriert werden kann. So können die Erfahrungen aus der eigenen Unterrichtstätigkeit für das Studium genutzt und gewinnbringend integriert werden. Dadurch entstehen auch ganz neue Möglichkeiten und Modelle für die Verknüpfung von Theorie und Praxis», ist Marc Fischer überzeugt. Das Interesse an der Studienvariante Quereinstieg ist offenbar gross. Der PH-Sprecher rechnet mit weiter steigenden Studierendenzahlen. «So können wir eine neue Zielgruppe für den Lehrberuf gewinnen und längerfristig motivierte Personen in die Schulen bringen, die diese bereichern und einen Beitrag zur Minderung des Lehrpersonenmangels leisten.»
Von der Lerntherapie in die Heilpädagogik
Wie wertvoll das Engagement von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern in der Schule sein kann, zeigt das Beispiel von Monika Kropf-Pulver. Durch ihre vielfältige Berufskarriere fällte sie ihren Entscheid vor sechs Jahren für einen schulischen Quereinstieg: «In meinem jetzigen Beruf als Lerntherapeutin kann ich alle meine beruflichen Tätigkeiten, die ich über die Jahre in medizinischen, pädagogischen sowie didaktischen Bereichen ausgeübt habe, einfliessen lassen. Der Beruf als Lerntherapeutin ermöglicht mir, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen zu arbeiten.» Seit zwei Jahren arbeitet sie in einer mittelgrossen Schule im Kanton Bern. Zusammen mit ihr arbeiten noch vier weitere IF-Fachlehrpersonen (Heilpädagoginnen) im Team. «Ich begleite die Schüler und Schülerinnen im lerntherapeutischen Setting in der Klasse sowie in Einzel- oder Kleingruppen. Ich unterstütze die Lehrpersonen zudem mit lern- und verhaltensspezifischen Klasseninterventionen von Zyklus 1 bis 3. Durch meine Arbeit mit Schülern, die zusätzliche Bedürfnisse haben und vermehrte Betreuung brauchen, kann ich die Lehrpersonen im regulären Schulbetrieb entlasten.» Ausserdem übernimmt Monika Kropf-Pulver diverse Aufgaben in Bezug auf Beratungen, Beurteilungen, Abklärungen und Behördengespräche. «Die Heilpädagogik und die Lerntherapie stehen gleichermassen im Dienste der Kinder und Eltern. Sie können sich daher gut ergänzen», sagt die Lerntherapeutin. Noch seien wenige Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten in der Schweiz direkt in den Schulen aktiv. Der spürbare Mangel an IF-Fachlehrkräfte bzw. Heilpädagoginnen und Heilpädagogen kann jedoch – so Monika Kropf-Pulver – eine Chance sein, nach einer Lösung in Form einer Zusammenarbeit mit den Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten zu suchen.
Weiterführende Links zum Thema
Schule und Elternhaus Schweiz (S&E)
Eltern eine Stimme geben
Als Elternorganisation der deutschsprachigen Schweiz vertritt Schule und Elternhaus Schweiz (S&E) auf nationaler Ebene die Anliegen der Eltern zu Themen rund um die Schule – und dies seit über 60 Jahren. S&E Schweiz fördert zusammen mit den kantonalen, regionalen und lokalen Sektionen die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule, Behörden und Eltern. S&E ist Patronatgeber des Berufswahl-Portfolios.