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Erzählt den Kindern mehr Geschichten!

Eine optimale Möglichkeit, praktische, kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen von Kindern zu fördern, ist das altbewährte Geschichtenerzählen. Das gemeinsame Lesen, Hören und Erzählen von Geschichten kann sich zu einem eng verbindenden Nähe-Erlebnis für die ganze Familie entwickeln.

Bild: © BGStock72/shutterstock.com

Kürzlich auf dem Flug von Zürich nach Larnaca: Eine quirlige Atmosphäre, viele Kleinkinder im Flieger. Neben mir, nur durch den Gang getrennt, eine Familie mit zwei Mädchen, ca. 2 und 4 Jahre alt. Kaum hat das Flugzeug abgehoben, bekommt das ältere Kind ein Tablet in die Hand gedrückt. Ununterbrochen klickt es darauf herum, während Mama und Papa ins Handy starren. Die Kleinste schläft. Als sie kurz vor dem Ziel aufwacht, darf sie auf dem Laptop einen Zeichentrickfilm anschauen. Die Ältere tippt jetzt eifrig auf dem Handy der Eltern herum. Ihre kleine Schwester, fasziniert von der bunten Bilderfolge, lässt nicht zu, dass das Gerät ausgeschaltet wird. Laut und energisch dringt ihr Protest durch die Sitzreihen. So hängt sie bei der Landung vornüber gebeugt im Gurt der Mutter, während der Vater mühsam den Bildschirm gerade hält. Die Stewardess drückt ein Auge zu – vielleicht gehört das für sie schon zum Alltag.

Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie solche Szenen beobachten. Doch eines weiss ich sicher – diese Situationen sind keine Seltenheit und leider schon bei den Kleinsten an der Tagesordnung. Keine Frage – es ist sehr verführerisch, wenn Kinder auf diese Weise schnell und anhaltend ruhig gestellt werden können. Doch der Schein trügt. Die Überreizung durch zu viel Bildschirmkonsum macht sich prompt in dem Moment bemerkbar, wenn das Gerät entzogen wird. Kein Wunder, welches Kind lässt sich schon gern seiner «virtuellen Nanny» berauben.

Jetzt macht sich dann auch schnell die mangelnde sensorische Erfahrung bemerkbar. Denn vor dem viereckigen Kästchen fehlen sowohl das reale Betasten und Erspüren sowie die eigenen, aktiven Bewegungen. Hier gibt es auch nichts zu Riechen oder Schmecken und wenig Raum für das intensive Nachfühlen mittels der freien, kindlichen Vorstellungskraft. Laut einer Untersuchung von Dr. Avelina Lovis-Schmidt aus dem Jahr 2022 1 beeinflusst eine zu frühe und stundenlange Bildschirmnutzung die Gehirnentwicklung eindeutig negativ. Zudem werden auch Defizite in der Sprachentwicklung festgestellt.

In Kitas und Kindergärten besteht Uneinigkeit darüber, wie viel Bildschirmzeit für welches Alter passend und förderlich sei. Oftmals sind es die Eltern, die für eine Frühförderung mittels Laptops plädieren, um ihre Kinder ja rechtzeitig an die neuen Medien heranzuführen. Doch die bisherigen Erfahrungen entkräften diese Besorgnis. Ganzheitlich geförderte Kinder bleiben hellwach und jederzeit aufnahmefähig für neue Lern- und Erfahrungswege. Je weniger Bildschirmkonsum (egal ob Fernseher, Laptop, Tablet oder Handy) im Kleinkindalter, umso höher ist und bleibt in der Regel die Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit der Kinder. «Gerade im Vorschulalter hat die Bildschirmnutzung auch für spätere Kompetenzen Einfluss und sollte besonders kritisch betrachtet werden. Angebote für Kinder und Jugendliche sind nötig, um ihnen eine entsprechende Orientierungsmöglichkeit zu liefern, wie beispielsweise Sportangebote, Entspannungsübungen, Bücherclubs, spielerische Programme zur Förderung von praktischen und kognitiven sowie sozialen und emotionalen Kompetenzen.» 2

Die verbindende Kraft des gemeinsamen Erzählens

Eine optimale Möglichkeit, diese Kompetenzen zu fördern, ist das altbewährte Geschichtenerzählen. Das gemeinsame Lesen, Hören und Erzählen von Geschichten kann sich zu einem eng verbindenden Nähe-Erlebnis für die ganze Familie entwickeln. Dabei ist der Wert überlieferter Volksmärchen nicht zu unterschätzen, auch wenn manchen Eltern die alten Märchen oft zu grausig erscheinen. In der Regel spüren Kinder jedoch genau, dass die Geschichten nicht real sind. Sie geniessen den wohligen Schauer, der ihnen den Rücken herunterjagt, während sie sicher und geborgen im Bett oder im Arm der Eltern liegen und bereits auf das gute Ende hinfiebern.

Freilich müssen es nicht immer Märchen sein, die jungen Menschen Mut machen und ihnen neue Perspektiven geben. Grosse Erkenntnisschätze und reichlich Wachstumspotenzial finden sich z. B. auch in Fantasy-Romanen. Ebenso in Tierfabeln und Metaphern, die ihre Weisheiten kurz und knackig und oft mit einem Augenzwinkern präsentieren. Nie werde ich vergessen, wie ich als Kind förmlich hineingesaugt wurde in die bunten Geschichten in meinem grossen Fabelbuch! 3 Heute begegnen mir diese Geschichten wieder in modernen Seminaren und Workshops. Vor allem ältere Kinder, die bei einem eindeutigen, elterlichen Rat eher auf Durchzug schalten, reflektieren dadurch sehr schnell und werden zugänglicher. Über den tiefen Wahrheitsgehalt der kleinen Geschichten können sich längere Gespräche entwickeln, die sowohl Kindern als auch Eltern neue Wege aufzeigen und ihnen helfen, ihre Verbindung zu vertiefen.

Therapeutische Geschichten – Kindern «auf den Leib geschrieben»

Einen relativ neuen Weg des therapeutischen Erzählens ging Anfang der Neunzigerjahre Dr. Doris Brett, eine australische Psychologin. Ihre dreijährige Tochter Amantha hatte grosse Angst vor dem Kindergarten. So erfand Dr. Brett kurzerhand die Geschichte eines Mädchens mit genau derselben Problematik. Und was kein Erklären und kein gutes Zureden geschafft hatte, das schaffte die Geschichte: Amantha freute sich auf den Kindergarten! Die Geschichten begleiteten die Tochter bis in die Pubertät. Gleichzeitig hinterliessen sie eine Sammlung wirkungsvoller therapeutischer «Mutmacher», die Doris Brett in mehreren Büchern 4 veröffentlichte. Darin gab und gibt sie nicht nur die erfolgreichsten Geschichten aus der eigenen Praxis weiter, sondern auch Anregungen, wie Eltern passende Geschichten für die eigenen Kinder erfinden können.

Manche Mütter und Väter trauen sich diese Kreativität vielleicht nicht zu. Trotzdem spüren sie, dass ihr Kind über Fantasiegeschichten gut zu erreichen wäre und darin vielleicht die Lösung für ein individuelles Problem liegen könnte. Hier besteht die Möglichkeit, sich Unterstützung durch Therapeuten, Coaches oder auch ein Storytelling-Seminar zu suchen. Je näher dann die Handlung der Geschichten an die Erlebniswelt der Zuhörenden heranrückt, umso nachhaltiger wirkt auch die Botschaft. Kinder ahmen in der Regel immer dem erfolgreicheren «Modell» nach. Handelt die Geschichte von den gleichen Problemen, mit denen sie aktuell kämpfen, sind sie umso leichter bereit, eigene Schwierigkeiten durchzustehen sowie die Sichtweisen und Lösungswege der Hauptfigur anzunehmen und ins eigene Leben zu übertragen.

Zum Abschluss nochmals ein kleiner Exkurs zu meiner Zypernreise: Neun Tage später, beim Rückflug von Larnaca nach Zürich, sass ich diesmal sogar direkt neben einer jungen Familie. Hier war das Töchterchen noch nicht ganz ein Jahr alt und sehr lebhaft. Unvergesslich blieb mir dabei die letzte halbe Stunde des Landeanfluges. Die Kleine fing mächtig an zu quengeln. Ihre liebevolle Mutter nutzte die besten Werkzeuge, die alle Eltern immer bei sich haben: Hände und Stimme! Gefühlt zwanzig Mal sang und spielte die junge Mutti die Geschichte von den zehn kleinen Zappelfingern. Die sanften Berührungen und der leise Gesang liessen jegliches Gequengel verstummen und bescherten den Eltern ein stressfreies Ankommen. Ich machte der Mutter ein grosses Kompliment für ihre Geduld und ihren Einfallsreichtum. Und wünschte dabei im Stillen, dass sie ihre wunderbaren Fähigkeiten und ihr grosses Engagement auch nach dem Einzug digitaler Spielgeräte weiter beibehalten wird. ++

Tipps für Eltern zum Erfinden und Gestalten von hilfreichen Geschichten

  • Übernehmen Sie die bewährte Struktur klassischer Märchen: ein Held oder eine Heldin – schwierige Umstände – Hoffnung und Durchhaltevermögen – überraschende Hilfe – Wandlung ins Gute – glückliches Ende.
  • Passen Sie bei einem aktuellen Problem die Struktur der Geschichte und die Lösung an die jeweilige Thematik an, jedoch ohne langatmige Erklärungen und Anweisungen. Es kann zudem hilfreich sein, der Hauptfigur einen Namen zu geben, der dem Namen Ihres Kindes ähnelt.
  • Es geht auch ohne Ermahnungen. Integrieren Sie die Suggestionen und Metaphern möglichst leicht und spielerisch in Ihre Geschichte und garnieren Sie alles mit einer guten Portion Spannung und Humor. So schaffen Sie einen Raum der Geborgenheit, in den sich Ihr Kind fallen lassen und dadurch sein Unterbewusstsein weit öffnen kann.
  • Vertrauen Sie Ihrer Fähigkeit, Ihr Kind mittels einer liebevoll erzählten Geschichte gut zu unterstützen. Und vertrauen Sie auch Ihrem Kind, dass es für sich genau die Erkenntnisse herausfiltern wird, die es gerade am meisten braucht.
  • Geniessen Sie Ihre gemeinsame Zeit. Hier bietet sich Ihnen ein kostbarer Freiraum, um mit den wahren Bedürfnissen und Wünschen Ihres Kindes in Berührung zu kommen.
  •  Beziehen Sie ihr Kind in den Verlauf der Geschichte mit ein. Fragen Sie z. B. nach, was es glaubt, wie es jetzt weitergehen könnte. Spinnen Sie den Erzählfaden auch mal gemeinsam weiter – ein paar Sätze Sie, ein paar Sätze Ihr Kind. Sie werden überrascht sein, was sich dabei alles entdecken lässt.
  • Würzen Sie die Erzählung mit sensorischen Erlebnissen. Lassen Sie den Duft des Apfels riechen, die süs-sen Trauben schmecken, die Schwere der Steine spüren, das Streicheln der Feder geniessen etc.
  • Das Ende der Geschichte sollte immer genügend Spielraum für die Interpretationen Ihres Kindes und für seine Weiterentwicklung bieten.
  • Und nicht vergessen: Machen Sie sich ein paar Notizen, damit Sie die Geschichte nochmals neu erzählen bzw. zu passender Gelegenheit weiterspinnen können.

Eine kleine Fabel. Gegen die Furcht vor dem Unbekannten. Für mehr Mut und (Selbst)Vertrauen.

Der Grashüpfer und die Biene

Auf einer bunten Blumenwiese lebten der Grashüpfer Bibber und seine Zwillingschwester Traute. Die Nächte verbrachten die Geschwister in einer kleinen Erdhöhle. Eine winzige Holztür schützte sie vor Eindringlingen. Eines Morgens, es war noch gar nicht richtig hell, klopfte es laut an der Tür. Vor Schreck fiel Bibber fast aus dem Bett. Leise und vorsichtig hüpfte er zum Höhleneingang. In der winzigen Holztür war ein noch winzigeres Loch, durch das Bibber unbemerkt nach draussen spähen konnte. Und was er dort sah, liess ihn vor Schreck erstarren! Draussen stand ein furchtbares Monster! Bibber konnte durch das Löchlein zwar nur die haarigen Beine sehen, aber trotzdem gab es für ihn keinen Zweifel: Diese Beine gehörten zu einem ganz, ganz schrecklichen Monster! Und so machte Bibber seinem Namen alle Ehre und bibberte vor Angst so laut und heftig, dass seine Zwillingsschwester Traute aufwachte. «Bibber, was ist los, was machst du da an der Tür?» rief sie. «D…, d…, d…, da!» bibberte Bibber «Schau mal durch das Loch. D…, d…, d…, da draussen steht ein schreckliches Monster!» Und so spähte auch Traute durch das Löchlein. «Komisch», meinte sie: «Ich sehe kein Monster. Ich sehe nur ein paar hässliche, haarige Beine!» Da klopfte es ein zweites Mal. Jetzt machte auch Traute ihrem Namen alle Ehre. Mutig öffnete sie die Holztür. Und draussen stand – eine Honigbiene. Verlegen trippelte diese von einem Beinchen auf das andere: «Entschuldigung, ich bin neu hier und wollte fragen, ob ihr mit mir frühstücken wollt. Und es tut mir leid, dass ich so hässliche Beine habe. Aber ohne sie könnte ich keine Pollen sammeln. Ausserdem», meinte die Biene und hielt ihnen ein Honigtöpflein entgegen, «gäbe es dann auch keinen Honig!» Als sie später alle gemeinsam beim Frühstück sassen und den Honig schmausten, sah Bibber nur noch das freundliche Lächeln seiner neuen Nachbarin. Ihre haarigen Beine hatte er völlig vergessen.

Autor/Copyright: Barbara Forster-Raum

Zitate/Literaturhinweise:

1 Bildschirmkonsum und kognitive Kompetenzen im Kindes- und Jugendalter, Februar 2022, Lernen und Lernstörungen 11(2)DOI:10.1024/2235-0977/a000367, License CC BY-NC-ND 4.0 Dr. Avelina Lovis-Schmidt, www.fuehlerei.de

2 Durlak, J. A., Weissberg, R. P., Dymnicki, A. B., Taylor, R. D. & Schellinger, K. B. (2011): The impact of enhancing students’ social and emotional learning: A meta-analysis of school-based universal interventions. Child Development, 82 (1), 405–432.  https://doi. org/10.1111/j.1467-8624.2010.01564.x

3 «Sämtliche Fabeln», Jean de La Fontaine (Autor), Grandville (Illustrator), Anaconda Verlag, ISBN-10: 3730609718, ISBN-13:  978-3730609712

4 «Ein Zauberring für Anna», Doris Brett (Autor), Verlag iskopressISBN-10: 3894031980, ISBN-13: 978-3894031985«Anna zähmt die Monster», Doris Brett (Autor), Verlag iskopressISBN-10: 3894031999, ISBN-13: 978-3894031992

Zur Person:

Barbara Forster-Reum arbeitet als Autorin, Coach und Erzählerin. Sie bietet in Schloss Hohenfels am Bodensee Seminare und Unterstützung zum Thema Storytelling/Heilsame Geschichten an: www.barbara-forster.de