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Integrieren oder separieren?

Das integrative Schulmodell polarisiert und stösst offenbar an seine Grenzen. Wie sinnvoll ist es, Kinder mit einer Behinderung oder mit Verhaltensauffälligkeiten in die Regelschule zu integrieren? Auch wenn die Meinungen dazu auseinandergehen, einig ist man sich darin: Die Ressourcen reichen für eine erfolgreiche Integration noch nicht aus.

Bild: © Robert Kneschke/shutterstock.com

«Ich kenne mehrere Schülerinnen und Schüler, die sehr gut in der Regelschule integriert sind. Ich kenne aber auch Kinder, die sich in der separativen Schule wohl- fühlen. Und es gibt solche, von denen ich weiss, dass ihre Integration in die Regelschule nicht zufriedenstellend funktioniert», berichtet Gabriela Heimgartner, Co-Präsidentin der Elternorganisation Schule und Elternhaus Schweiz (S&E). Die Diskussion um den Sinn einer integrativen Schule, wie sie in der Schweiz seit der Schulreform «Integrative Förderung» (IF) aus dem Jahre 2004 betrieben wird, polarisiert. Die integrative Förderung verpflichtet die Schulen, in ihren Regelklassen auch verhaltensauffällige, behinderte oder lernschwache Schüler aufzunehmen und zu fördern. Zuvor wurden diese Kinder und Jugendlichen in Klein- oder Sonderklassen unterrichtet. In den letzten Monaten häuften sich in den Medien die Klagen und die Kritik am integrativen Schulsystem der Schweiz. In Basel beispielsweise will eine Initiative mit einer zeitweiligen Aufhebung der Integration Abhilfe schaffen.

Ressourcen reichen noch nicht aus

Wie beurteilt der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) die Situation rund um den integrativen Unterricht? Letztes Jahr aktualisierte der LCH sein Positionspapier zur integrativen Schule. Der LCH unterstützte die Leitidee einer integrativen Schule von Anfang an. Er tat dies allerdings unter dem Vorbehalt, dass die notwendigen Rahmenbedingungen vorhanden sind, wie Dorothee Miyoshi und Beat A. Schwendimann, Mitglieder der Geschäftsleitung des LCH, betonen. «Heute wird deutlich, dass es vielerorts immer noch an Personal, Zeit, Strukturen und geeigneten Räumlichkeiten fehlt.» Die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte hätten gezeigt, dass die Ressourcen und Strukturen für ein qualitativ hochwertiges und nachhaltiges Funktionieren des inklusionsorientierten Schulsystems noch nicht ausreichen.

Dringender Handlungsbedarf

Grenzen der Inklusion zeigen sich gemäss LCH dann, wenn einzelne Akteure im System überfordert sind. Es bedürfe deshalb einer besseren Koordination, pragmatischer Strukturreformen sowie ausreichender personeller, finanzieller, zeitlicher und räumlicher Ressourcen. «Nicht erst seit dem akuten Fachpersonenmangel mehren sich die Meldungen von Lehrpersonen und Fachpersonen mit pädagogisch-therapeutischem oder heilpädagogischem Auftrag, dass sie bei der Umsetzung der integrativen Schule an ihre Grenzen stossen. Aus Sicht des LCH besteht daher dringender Handlungsbedarf, um die Arbeitssituation der Lehr- und Fachpersonen zu verbessern», erklären die beiden LCH-Geschäftsleitungsmitglieder.

Grosse Herausforderungen

Die Leitidee einer inklusionsorientierten Schule müsse für alle Beteiligten – ob Lehrpersonen, Kindern oder Eltern – tragbar umgesetzt werden. Die enorme Heterogenität stelle aber, so Dorothee Miyoshi und Beat A. Schwendimann, Lehr- und Fachpersonen vor grosse Herausforderungen. «Wenn gewisse Schwellenwerte überschritten werden, wird die Situation zunehmend belastend. Wichtig sind in diesem Zusammenhang das Betreuungsverhältnis, Unterstützungsangebote und die Klassenzusammensetzung.» Das Positionspapier des LCH fordere daher insbesondere für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit herausforderndem Verhalten ausreichende Unterstützung und falls nötig separative Lösungen. Die Leitidee einer inklusionsorientierten Schule müsse für alle tragbar umgesetzt werden, betont der LCH. Trotz aller Herausforderungen setze sich der Dachverband für die Chancengerechtigkeit in der Bildung ein. Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten zwei Jahrzehnte befanden, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen in inklusionsorientierten Schulen signifikant grössere Fortschritte machen als in separaten Sonderklassen oder Sonderschulen, begründet der LCH.

«Leicht besser» als die Separation

In der Tat kommen einige Studien zum Schluss, dass die schulische Integration laut dem Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) offenbar «leicht besser abschneidet» als die Separation. Zu den positiven Effekten auf integrierte Schülerinnen und Schülern zählen gemäss dem SZH zum Beispiel eine geringere soziale Entwurzelung, bessere Entwicklung der sozialen Kompetenzen wie auch eine grössere Stimulation im Schulunterricht. Als negative Aspekte werden unter anderem eine schlechtere Akzeptanz für Kinder mit Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten sowie Schwierigkeiten bei wechselnden Bezugspersonen im Unterricht angegeben.

Erfolg von verschiedenen Faktoren abhängig

Das Gelingen der schulischen Integration von Lernenden mit besonderem Bildungsbedarf, dabei eingeschlossen auch Behinderung, ist laut dem SHZ von vielen verschiedenen Faktoren abhängig – dazu zählen zum Beispiel die Klassengrösse und zusätzliche Ressourcen, eine gute Grundausbildung der Regelschullehrpersonen, die Einstellung der Lehrpersonen gegenüber der schulischen Integration oder auch die Zusammenarbeit nicht nur zwischen den jeweiligen Fachpersonen, sondern auch von der Kooperation zwischen Fachleuten und Bezugspersonen des Kindes/Jugendlichen. Wie das SHZ erklärt, überwiegen für die anderen Schülerinnen und Schüler der Klasse die positiven Effekte einer Inte-gration von Kindern mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung. Grund: Sie erleben und lernen Differenzen, Toleranz, Fürsorge, Mitgefühl und Hilfe. Sie überwinden Ängste und Stereotypen. Ausserdem stärke die Zusammenarbeit mit verschiedenartigen Kindern und Jugendlichen das Selbstvertrauen und die Selbstachtung. Das Lernen und die Entwicklung der Kinder würden dabei nicht beeinträchtigt.

Unterschiedliche Rahmenbedingungen

«Mit Blick auf diese Resultate bin ich überzeugt, dass die inklusive Schule der richtige Weg ist», sagt Elisabeth Moser Opitz, Professorin für Sonderpädagogik Bildung und Integration (SBI) an der Universität Zürich, im Interview mit dem LCH-Magazin Bildung Schweiz. Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten lernen auf diese Weise offenbar mehr. «Das wirkt sich auch auf die berufliche Zukunft aus: Schülerinnen und Schüler, die integrativ geschult wurden, erreichen später höhere Berufsabschlüsse. Ich verstehe aber, dass manchmal Zweifel an den Rahmenbedingungen oder einer bestimmten Umsetzungsform der inklusiven Schule aufkommen, auch, weil die Rahmenbedingungen je nach Kanton unterschiedlich sind», erklärt die Bildungswissenschaftlerin.

Kein Vorteil in Kleinklassen …

In mehreren Kantonen wird inzwischen die Rückkehr zu Kleinklassen gefordert – also mehr Separation. Was hält Elisabeth Moser Opitz davon? «Für Kinder mit Lernschwierigkeiten wüsste ich nicht, was der Vorteil von Kleinklassen wäre. Anders ist es bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten, sprich, wenn soziale Kompetenzen fehlen. Schwierig sind vor allem Kinder, die aggressiv sind und den Unterricht stören.» Allerdings wäre es wenig hilfreich, sie längerfristig in einer Kleinklasse mit Mitschülerinnen und Mitschülern mit denselben Problemen unterzubringen. Denn in einer Gemeinschaft, in der alle die gleichen Schwierigkeiten haben, können sie kein positives Verhalten lernen.» Trotzdem gebe es ganz klar Situationen, in denen eine Separation «unabdingbar» ist und die Lehrpersonen und die Klassen entlastet werden müssen.

Studien infrage stellen

Welche Argumente und Voten führen die Kritiker des integrativen Schulmodells ins Feld? Felix Schmutz ist ehemaliger Sekundarschullehrer aus dem Kanton Baselland und Autor des Blogs Condorcet, eines Zusammenschlusses von Lehrkräften, Journalisten, Philosophinnen, Eltern usw., die über den gegenwärtigen Bildungsdiskurs schreiben. In seinem Beitrag über die integrative Schule stellt Felix Schmutz die Ergebnisse verschiedener Studien über die Effekte der Integration an Schulen infrage. Besonders «erhellend» sei dabei die Übersichtsstudie «Die Auswirkungen der Inklusion auf schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen» von Nina T. Dalgaard et al. aus dem Jahre 2022.

Grundsätzliche Mängel

«Die methodische Qualität der Studien ist allgemein unbefriedigend», wird die Metaanalyse zitiert, nachdem alle infrage kommenden 20 183 Arbeiten ab Jahr 2000, von denen 94 aus 19 verschiedenen Ländern in Betracht kamen, analysiert wurden. Das Autorenkollektiv stellt laut Felix Schmutz fest, dass den Studien grundsätzliche Mängel anhaften, indem zum Beispiel nicht zwischen den Typen von Beeinträchtigungen und den Arten von schulischen Integrationsmassnahmen unterschieden wurde. Eine umfassende Theorie zur Art und Weise der pädagogischen Integration fehle. Die methodische Qualität der Studien sei allgemein «unbefriedigend». Zudem bestehe lediglich ein moralisch-politischer Imperativ, der den diskriminierungsfreien Unterricht für alle Kinder fordert.

«Eingeengter Blick»

Die Studien zeigen weiter starke Ausschläge in positiver und negativer Richtung für beide Organisationsformen: «Während einige Kinder mit speziellen Bedürfnissen von der Platzierung in integrierten Klassen profitieren, können andere von einem traditionellen Unterricht in einem segregierten Umfeld profitieren.» Deshalb betont die Studie die Notwendigkeit, Kinder mit spezifischen pädagogischen und psychosozialen Bedürfnissen individuell abzuklären, anstatt sie in einem Einheitsverfahren in Spezialklassen zu platzieren.» In seinem Blogbeitrag kommt Felix Schmutz zum Schluss, dass es «keine signifikanten Unterschiede zwischen Integration und Separation gibt, wenn Analysen auch in beiden Settings positive und negative Ausschläge verzeichnen, wofür die Gründe in noch nicht genügend erforschten Faktoren zu suchen sind». Weiter kritisiert der Blogautor, dass sich die Studien auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen beschränkten. In integrierten Klassen gebe es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Die Wirkung der Integration auf diese Gruppe müsste ebenfalls seriös abgeklärt werden. «Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen», findet Felix Schmutz.

Zum Wohl des Kindes

Welche Meinung vertritt Schule und Elternhaus Schweiz (S&E) als nationale Elternorganisation zum integrativen Schulmodell? Dazu Gabriela Heimgartner, Co-Präsidentin von S&E Schweiz: «Die Frage ist nicht, ob integrative Schule oder nicht, sondern: Was braucht es für eine gelingende integrative Schule?» Die Entscheidung für integrativ oder separativ müsse zum Wohl des Kindes gefällt werden, und nicht zum Vorteil der Schule, der Eltern oder der Finanzen. Für eine gelingende integrative Schule brauche es geeignete Rahmenbedingungen. Dazu zählen laut Gabriela Heimgartner ein Team mit genügend Ressourcen, wie ausgebildete Klassenlehrpersonen, Heilpädagoginnen, Logopädinnen, Psychomotorik-Therapeutinnen und -Therapeuten, ausgebildete und angemessen bezahlte Schulassistenzen, ein optimaler Schulraum sowie fachliche Beratung all dieser Personen. Die Zusammenarbeit der Schule mit den Eltern, die Haltung der Lehr- und Fachpersonen und die Ressourcen seien entscheidend, ob die Integration gelinge. «Die Kosten einer separativen Beschulung eines Kindes sind sehr gross. Wenn die gleichen finanziellen Mittel der Regelschule für die Integration eines Kindes zur Verfügung stehen würden, hätte die Schule für die meisten Kinder genügend Ressourcen für eine gelingende Integration», betont Gabriela Heimgartner. ++

Schule und Elternhaus Schweiz (S&E)

Eltern eine Stimme geben

Die Anliegen der Eltern vertreten

Als Elternorganisation der deutschsprachigen Schweiz vertritt Schule und Elternhaus Schweiz (S&E) auf nationaler Ebene die Anliegen der Eltern zu Themen rund um die Schule – und dies seit 70 Jahren. S&E Schweiz fördert zusammen mit den kantonalen, regionalen und lokalen Sektionen die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule, Behörden und Eltern. S&E ist Patronatsgeber des Berufswahl-Portfolios.

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