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Kindliche Kurzsichtigkeit bremsen

Kurzsichtigkeit beginnt im Kindesalter. Das unscharfe Sehen in der Ferne mindert nicht nur die Lebensqualität, sondern begünstigt auch ernste Augenerkrankungen. Im Interview gibt Professor Dr. med. Wolf Lagrèze, Spezialist für Augenheilkunde, Eltern Tipps, wie kindliche Kurzsichtigkeit gebremst werden kann.

Bild: © Morrowind/shutterstock.com

Was heisst Kurzsichtigkeit eigentlich und wie wirkt sie sich aus?

Prof. Dr. Lagrèze: Menschen mit Myopie – also Kurzsichtigkeit – sehen in der Regel alles scharf, was in ihrer Nähe ist. Alles, was weiter entfernt ist, nehmen sie dagegen unscharf wahr.

Ab welchem Alter kann eine Kurzsichtigkeit bei Kindern entstehen?

Sind bereits beide Elternteile ausgeprägt kurzsichtig, ist Wachsamkeit angesagt. Dann ist die Wahrscheinlichkeit für das Kind erhöht, ebenfalls kurzsichtig zu werden. Oft entsteht eine Myopie jedoch nach der Einschulung und setzt etwa zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr ein. Wie stark eine Person kurzsichtig ist, lässt sich in Dioptrien und mit einem vorangestellten Minuszeichen angeben. Eine leichte Kurzsichtigkeit liegt z.B. bei minus 1 Dioptrie vor, eine starke bei minus 6 und höheren Werten.

Laut Augenexperten wird Kurzsichtigkeit bei Kindern immer häufiger diagnostiziert. Warum?

Das stimmt so nicht. Im Gegensatz zu den asiatischen Ländern nahm Kurzsichtigkeit in Europa aktuell in den letzten circa 20 Jahren nicht zu. In Asien hingegen führen wir das auf die übermässige Nutzung von Smartphone, Tablet und PC zurück, denn viele Kinder lesen oder spielen mehrere Stunden am Tag mit ihren digitalen Geräten. Die Kurzsichtigkeit nimmt hauptsächlich bei Kindern zu, die sehr lange und mit einem kurzen Abstand auf einen Bildschirm schauen. Dabei ist das Auge auf den Nahbereich fokussiert. Ausserdem werden elektronische Geräte meist in Innenräumen genutzt, also bei künstlichem Licht. Auch das könnte zur vermehrten Myopie bei Kindern beitragen.

Was können Eltern konkret tun?

Wir empfehlen Eltern, ihre Kinder mindestens zwei Stunden pro Tag draussen spielen zu lassen. Tageslicht hemmt das Längenwachstum des Augapfels und bremst so Kurzsichtigkeit ab. Diese zwei Stunden Aufenthalt im Freien kann das Risiko für Kurzsichtigkeit halbieren – wir vermuten bis ins junge Erwachsenenalter. Zudem sollten Kinder beim Lesen den Mindestleseabstand von 30 Zentimetern zu Buch oder Tablet einhalten, jede halbe Stunde eine Pause einlegen und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Im Übrigen geht man davon aus, dass die Nutzung digitaler Medien zunehmend auch psychologische Entwicklungsstörungen nach sich zieht.

Gibt es eine medikamentöse Behandlung bei Myopie?

Ja, insbesondere bei Kindern im Alter von sechs bis 14 Jahren, bei denen die Kurzsichtigkeit pro Jahr um mindestens eine halbe Dioptrie zunimmt, können von der Therapie mit Atropin-Tropfen profitieren. Die Eltern träufeln abends vor dem Zubettgehen jeweils einen Tropfen in der geringen Konzentration von 0,01 Prozent Atropin in jedes Auge, dies über mehrere Jahre. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten dafür nicht. Erhältlich sind die Tropfen auf Rezept als unkonservierte Zubereitung in Apotheken. Studien aus Asien belegen, dass die Tropfen die Zunahme der Kurzsichtigkeit etwas abbremsen. Trotzdem sollten sich die Kinder weiterhin zwei Stunden pro Tag im Freien aufhalten. Die Atropin-Tropfen ersetzen auch die Brille nicht, die konsequent getragen werden sollte.

Was gilt es bei der Korrektur der Brille zu beachten?

Was die Brille betrifft, gilt: Kurzsichtigkeit sollte nicht unterkorrigiert werden. Die Annahme, schwächere Brillengläser würden das Augenlängenwachstum bremsen, ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Unterkorrektur fördert Kurzsichtigkeit. Kinder, deren Kurzsichtigkeit fortschreitet, sollten ein- bis zweimal pro Jahr untersucht werden und ihre Brille bei Bedarf an die aktuellen Werte angepasst werden. Spezielle Brillen, die versprechen, das Augapfel-Wachstum und damit die Kurzsichtigkeit aufzuhalten, betrachte ich aktuell noch mit Zurückhaltung. Um diese sogenannten Multisegment-Gläser abschliessend beurteilen zu können, bedarf es weiterer klinischer Studien.

Gibt es Alternativen zu Atropin-Augentropfen?

Ja, es gibt spezielle Kontaktlinsen für die Nacht, die ebenfalls die Kurzsichtigkeit bremsen können und etwa bis zum 14. Lebensjahr getragen werden können. Hier ist die Studienlage solider. Wenn das Kind motiviert ist und Lust auf Kontaktlinsen und die damit verbundene Hygiene hat, kann man sie ab einem Alter von etwa zehn Jahren empfehlen. Wichtig zu wissen: Eine Möglichkeit zur Minderung der Kurzsichtigkeit besteht nur im Kindes- und Jugendalter während der Wachstumsphase des Augapfels. Diese Entwicklung ist grösstenteils mit 17 Jahren abgeschlossen. Bei Erwachsenen funktioniert das also nicht mehr. ++

Symptome, die auf Kurzsichtigkeit hindeuten können

  • Das Kind hat Probleme, die Schrift auf einer Schultafel zu lesen.
  • Das Kind kneift beim Lesen häufig die Augen zusammen oder blinzelt.

Tipp: Bei einem dieser Symptome sollten Eltern mit ihrem Kind augenärztliche Hilfe suchen und abklären, was genau hinter solchen Sehproblemen steckt.

Zur Person

Prof. Dr. med. Wolf Lagrèze ist Mitglied der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG). Gegründet im Jahr 1857 in Heidelberg, ist die DOG die älteste augenärztliche Fachgesellschaft der Welt und die älteste fachärztliche Gesellschaft Deutschlands.