Aggression wird in unseren pädagogischen Einrichtungen, aber auch in den Familien, zunehmend tabuisiert. Aggressiv zu sein ist nicht erlaubt. Gleichzeitig machen wir uns immer mehr Sorgen um Kinder mit «Wutanfällen» und «aggressiven Ausbrüchen.»
Wut tut gut!
Aggression spielt eine wichtige Rolle
Früher wurde aggressives Verhalten von Kindern gegen ihre Eltern oder Erziehende als Ungehorsam angeschaut. Es widersprach der herrschenden Machtstruktur und wurde mit ebenso aggressiven Strafen bekämpft. Heute haben wir uns von dieser Tradition distanziert, doch Gefühle werden immer noch in positive und negative eingeteilt. Glück, Liebe und auch Traurigkeit sind akzeptabel, Wut und Aggression sind unerwünscht. Eltern wie auch Institutionen wollen gute, angepasste und folgsame Kinder. Doch Aggression kann man nicht einfach ausschalten oder abtrainieren. Kämen ihr nicht wichtige Funktionen zu, hätte sie sich im Verlauf der Evolution kaum erhalten. Daher sollte uns interessieren, worin ihre nützliche Aufgabe besteht. Nur so können wir sie integrieren und verhindern, dass sie destruktiv Raum fordert.
Aggression beim Kleinkind
Beim Kleinkind geht es meistens um einen gesunden Konflikt. Das Kind hat einen Wunsch oder eine Idee und die Mutter oder der Vater sagt «Nein» zu diesem Wunsch. Das führt beim Kleinkind verständlicherweise zu Frust. Dieser Frust zeigt sich bei einigen Kindern, indem sie sich auf den Boden werfen und um sich schlagen. Kinder verfügen von Geburt an über vielfältige Gefühle und deren adäquate Ausdrucksformen. Damit orientieren sie ihre Umgebung über ihre Bedürfnisse und Grenzen und appellieren an ihre Gegenüber. Der Ausdruck von Emotionen hat also immer einen kommunikativen Sinn, er ist wichtig für die Qualität der Beziehung. Manchmal ist es nicht ganz einfach, die emotionalen Botschaften zu entschlüsseln. Es braucht Geduld und aufrichtiges Interesse zu erfahren, was hinter dem Verhalten steht. Aggression gehört zu den Grundemotionen wie Liebe, Freude und Trauer. Wie können sich Eltern gegenüber den Wutausbrüchen ihrer Kleinkinder verhalten? Zunächst braucht es grundsätzliche Akzeptanz gegenüber dem Gefühl Aggression: Aggression ist weder gut noch schlecht, sondern notwendiger und sinnhafter Ausdruck von relevanten Informationen. Durch diese Grundhaltung zeigen Erwachsene dem Kind, dass es nicht ‹falsch› ist. Durch eine Rückmeldung an das Kind über die eigene Wahrnehmung («ich merke, dass du wütend bist») fühlt es sich wahr- und ernst genommen. Dieses «wahr- und ernst genommen fühlen» reicht bei Kleinkindern, um wieder zur Ruhe zu kommen. Jesper Juul bezeichnet diesen Prozess als «Gesunden Konflikt». Wenn nun Eltern es nicht aushalten, ihr Kind wütend und frustriert zu sehen, unterbrechen sie diesen lebenswichtigen Prozess. Viele Eltern wollen diese «negativen» Gefühle beim Kind «wegmachen», um wieder das glückliche und zufriedene Kind vor zu sich haben. Das passiert, wenn Eltern selber keinen gesunden Zugang zum Gefühl Aggression haben.
Aggression bei älteren Kindern
Zunehmend gelangen Eltern an mich, weil sie ein aggressives Schulkind haben. Ein 9-jähriges Mädchen, welches ein anderes Kind beisst oder ein 11-jähriger Junge, welcher herumschreit und sich der Lehrperson gegenüber aggressiv verhält. Bei dieser Art von Aggression handelt es sich mehr um eine existenzielle Not.
Aggression drückt innere Not aus
Unsere aggressiven Emotionen werden immer dann mobilisiert, wenn wir uns nicht als so zugehörig und wertvoll für andere Menschen empfinden, wie wir es zum Leben brauchen. Aggression von Kindern kann man demzufolge als Versuch sehen, eine innere Not auszudrücken und damit als eine Einladung an den Erwachsenen, für die aktuelle Situation Verantwortung zu übernehmen. Jesper Juul sagt: «Wären diese aggressiven Kinder so sprachgewandt, wie sie sensibel sind, müssten sie nicht treten und schlagen, sondern könnten sagen: Ich fühle mich gerade nicht wertvoll und zugehörig, kann sich bitte jemand für meine Not interessieren?» Ein Aspekt der Aggression dient also schlichtweg der Kommunikation zwischen Menschen. Dies bestätigt auch Joachim Bauer, Mediziner und Neurobiologe, der schreibt: «Fehlende Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Zurückweisung durch andere Menschen sind die stärksten und wichtigsten Aggressionsauslöser.» Und: «Da Bindung für Kinder und Jugendliche lebenswichtig ist, stellt das Aggressionssystem ein Alarm- und Hilfesystem im Dienste der Sicherung oder Wiedererlangung von Bindung her.» Wird der Ausdruck von Aggression verboten, bedeutet dies, dass Familien und Institutionen den Kindern verbieten, um Hilfe zu rufen. Im Beziehungskontext kommt der Aggression eine wichtige Rolle zu. Sie weist auf Kränkungen, Verletzungen der Integrität und ungelöste Konflikte hin. Eines der Schlüsselphänomene in unseren Beziehungen ist das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden und im Leben anderer Menschen wertvoll zu sein. Ein Mensch fühlt sich wahrgenommen und wertvoll, wenn:
- er wie ein Subjekt und nicht wie ein Objekt behandelt wird (Gleichwürdigkeit)
- er akzeptiert wird, so, wie er ist (Integrität)
- er sich verstanden fühlt (er muss nicht recht bekommen, nur sich verstanden fühlen)
- wenn er gebraucht wird.
Wie können sich Eltern und Fachpersonen gegenüber aggressiven Kindern verhalten? Es ist oft sinnvoll abzuwarten, bis sich die emotionalen Wogen etwas geglättet haben, um dann den aufrichtigen Dialog mit dem Kind zu suchen und zu verstehen, was seine Kränkung verursacht hat bzw. was sein Gleichgewicht wiederherstellen könnte. Giesst man stattdessen Öl ins Feuer, ergreift Partei, bewertet, moralisiert und macht Vorwürfe, wird die Not des betroffenen Kindes wachsen und sein Verhalten massiver werden. Der aufrichtige Dialog mit Kindern, die aggressives Verhalten zeigen, kann eskalative Prozesse entschärfen. Der Erwachsene trägt die Verantwortung für das Gelingen. Er sollte:
- echtes Interesse an den Gedanken und Gefühlen des Kindes haben
- offen und neugierig sein
- nicht wertend zuhören können
- anerkennen, wer das Kind ist
- persönliches Feedback geben.
Darf ein Kind alle Gefühle zeigen und erfährt es, dass es darin nicht bewertet, sondern wahrgenommen und verstanden wird, braucht es keine Zuspitzung seines Verhaltens, um auf existenzielle Bedürfnisse und Not aufmerksam zu machen. Paradoxerweise führt nicht die Ächtung und Tabuisierung von Aggression zu weniger Gewalt, sondern ihre Würdigung und Akzeptanz. Aggressive Gefühle auszudrücken gehört zum gesunden Verhaltensrepertoire von Menschen und ist kein Zeichen von Krankheit oder Unreife. Erst die Tabuisierung und Geringschätzung führt zu destruktiven Varianten wie beispielsweise Gewalt.
Alle Gefühle zeigen
Gewalttätige Menschen haben oft keine Legitimation für ihre «schwierigen» Ge-fühle erfahren, haben nicht lernen können, wahrzunehmen und adäquat auszudrücken, was sie wollen und brauchen. Ihr Versuch, sich auszudrücken, hat zu immer mehr Ausgrenzung und Stigmatisierung geführt. Das Leugnen-Müssen existenzieller Gefühle erzeugt enorme Spannungen, die dann häufig destruktiv durchbrechen und den Teufelskreis von gewalttätig verhalten, ausgegrenzt werden, sich wertlos fühlen, verzweifeln, gewalttätig werden … fortsetzen. Geben wir also den Kindern in den Beziehungen zu Hause und in der Schule die Chance, sich ganz zu zeigen, mit den sonnigen, aber auch den schmerzhaften und abgrenzenden Gefühlen. Helfen wir ihnen zu differenzieren zwischen dem, was sie fühlen, und dem, was sie tun, damit sie in der Beziehung zu sich und zu anderen Verantwortung übernehmen lernen.