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Wenn Kinder zu Tyrannen werden

Der Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff wirft ein neues Licht auf die Debatte um den Erziehungsnotstand. Er warnt: Kinder werden zunehmend zu Partnern gemacht und sind damit überfordert. Wir haben Michael Winterhoff getroffen und ihn zu seinen Thesen befragt.

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Leistungsschwächen, fehlende Sozialkompetenz und immense Anspruchshaltung stellen Universitäten, Schulen und Firmen zunehmend bei Kindern und Jugendlichen fest. Lehrer und Erzieher fordern Grenzen. Das helfe gar nichts, argumentiert der Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff. Er sieht die Ursache für die zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern darin, dass sie keine Kinder mehr sein dürfen. Sein Ansatz scheint für viele der erhoffte Ausweg aus der Misere, denn sein Buch «Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder: Die Abschaffung der Kindheit» hat es an die Spitze der deutschen Bestsellerliste geschafft. Bald soll es auch in Japan und Korea zu lesen sein. Michael Winterhoff verbindet in seiner These Kindheitsdeutung nach Sigmund Freud mit neurologischen Erkenntnissen zum Lernprozess.

swissfamily: Jede Generation behauptet, die Kinder früher seien braver und klüger gewesen. Steht es also wirklich so schlecht um die Jungen?

Michael Winterhoff: Ich arbeite seit 1988 als Kinderpsychiater. In den vergangenen fünfzehn Jahren habe ich beobachtet, dass sich das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in meiner Praxis gravierend verändert. Während es früher vielleicht zwei, drei auffällige Kinder pro Schulklasse gab, so sind es inzwischen oft dreimal so viele. Meistens haben diese Kinder die gleiche Störung. Es sind Narzissten mit dem Entwicklungsstand eines Eineinhalbjährigen. In diesem Entwicklungsstadium reagiert das Kind in erster Linie lustorientiert und steuert damit sein Umfeld. Ein jugendlicher Erwachsener mit einer derartigen Psyche ist nicht in der Lage, sich in einen Arbeitsalltag zu integrieren. Das ist alarmierend, wenn man bedenkt, dass diese Generation einmal das Ruder übernehmen soll.

Wie drückt sich dieser Narzissmus aus?

Ein typisches Merkmal ist, dass sich diese Kinder und Jugendlichen nicht auf mich als Gegenüber einstellen können. Das beginnt schon, wenn ich das Wartezimmer betrete: Der zehnjährige Patient lümmelt am Boden und reagiert nicht auf meine Begrüssung. Im Praxiszimmer setzt er sich bewusst auf den Stuhl rechts von meinem Schreibtisch, wenn ich ihm den linken anbiete und wirkt wie behindert. Von Lehrern höre ich, dass er ihre Arbeitsanweisungen nicht ausführt.

Das klingt nach Trotzverhalten?

Doch nicht in diesem Alter! Dieses Verhalten ist nicht mal mit drei Jahren in Ordnung. Ab diesem Alter ist ein Kind normalerweise in der Lage, den anderen zu erkennen. Und es verliert allmählich das kleinkindliche Weltbild, das heisst, es gibt nur mich und ich kann alles bestimmen. Das Kind grüsst zusammen mit den Eltern und führt die Anordnungen eines übergeordneten Erwachsenen aus. Es beginnt etwa damit, bestimmte Arbeiten zu erledigen, wie das Tischdecken, später dann Hausaufgaben machen.

Also hapert es bei der Erziehung?

Es handelt sich hierbei eben nicht um fehlende Erziehung, auch wenn diese Kinder so wirken mögen. Das Entscheidende ist, dass sie psychisch nicht entwickelt sind – trotz Erziehung. Ich behaupte, dass die neurobiologische Entwicklung bei ihnen nicht stattfindet. Sie lässt den Menschen erst zu einem alltagstüchtigen, das heisst frustrationstoleranten, sozialkompetenten Erwachsenen heranreifen.

Sie fokussieren ein Idealbild des angepassten Menschen, der seine Emotionen im Griff hat und bei der Arbeit funktioniert. Bleibt dabei nicht die Individualität auf der Strecke?

Das schliesst sich nicht aus. Aber die Individualität kann sich erst ab einem bestimmten Entwicklungsstand entfalten. Ein dreijähriges Kind hat noch keine Persönlichkeit. Es kann erst unter richtiger Führung eine entwickeln. Das heisst, es kann noch nicht entscheiden, ob es spielen oder basteln will. Die Eltern oder Bezugspersonen müssen diese Entscheidung treffen. Deshalb sind Montessori-Schulen und solche mit individuellem Förderansatz geeignet für Kinder, die Regeln verinnerlicht haben. Für narzisstische Kinder sind sie eine totale Überforderung.

Was ist der Grund für die fehlende Reifeentwicklung bei vielen Kindern?

Der Schlüssel des Problems ist, dass sich viele Erwachsene unbewusst in Beziehungsstörungen zu ihren Kindern befinden. Sie nehmen ihr Kind nicht mehr als Kind wahr und das führt dazu, dass es in die Rolle des Erwachsenen schlüpft. Das ist etwa der Fall, wenn ein achtjähriges Kind über die Farbe des neuen Sofas bestimmt und den Urlaubsort auswählt. Im schlimmsten Fall gehen die Eltern mit ihren Kindern eine Symbiose ein – sie verschmelzen mit ihnen. Sie nehmen ihr Kind nicht mehr als etwas Fremdes wahr. Das Kind ist wie ein weiterer Arm der Mutter oder des Vaters, die es nicht als störend empfinden, wenn ihr Fünfjähriger Stühle umwirft, während man sich mit ihnen unterhält. Die Kinder werden von Erwachsenen unbewusst zu Partnern gemacht. Anstatt das Kind zu führen, lassen sie sich von ihm steuern.

Sie sind also für mehr Autorität. Das löst bei vielen 68ern, die sich als Opfer eines diktatorischen Erziehungsstils empfinden, vermutlich Unbehagen aus. Gibt es einen Mittelweg?

Elternschaft hat sich historisch verändert. Die Folge des diktatorischen Erziehungsstils waren unter anderem devote Persönlichkeiten oder im anderen Extremfall radikale. Aber zwischen 1970 und 1990 gab es in der Mittelschicht auch ein förderliches Familienmodell. Die Kleinkinder wurden angeleitet, den Jugendlichen dann mehr Verantwortung übertragen – ein Weg von Hierarchie zu Partnerschaft. Mit dem zunehmenden Wohlstand ist die Situation leider gekippt. Das Kind soll alles haben dürfen – und zwar sofort.

Was hat der Wohlstand damit zu tun?

So viel Wohlstand und Wahlmöglichkeiten und gleichzeitig so viele Negativprognosen in Sachen Umwelt, Arbeit und Sicherheit wie derzeit herrschen, hält kein Mensch aus. Viele Eltern sind verunsichert angesichts einer Gesellschaft, die zunehmend weniger Orientierung und Sicherheit bietet. Die Anforderungen an den Einzelnen werden immer komplexer. Das beginnt schon bei der Wahl des richtigen Telefonanbieters und geht im Berufsleben weiter. Viele Erwachsene kompensieren diese Orientierungslosigkeit unbewusst über ihre Kinder. Das kindliche Glück soll dem Leben einen Sinn verleihen und scheint vielen die einzige Zukunftsperspektive. Diese Projektion kehrt die Machtverhältnisse innerhalb der Familie um. Eltern tun alles, um von ihren Kindern geliebt zur werden. Sie wollen von ihnen dafür gelobt werden, dass sie hart arbeiten, um dem Kind das teuerste Spielzeug kaufen zu können. Kinder werden in die Elternrolle gedrängt.

Sie haben selbst zwei Kinder. Können Sie sich abgrenzen, wenn Ihre Kinder sich weigern oder frech sind?

Ich grenze mich als Elternteil nicht ab, sondern bin natürlich abgegrenzt. Abgrenzung ist in diesem Fall kein aktiver Vorgang. Wenn ich als Elternteil in mir ruhe, reagiere ich aus der Intuition. Sicher haben sich meine Kinder im Kleinkindalter auch geweigert, etwa sich anzuziehen. Ich habe dann den Raum verlassen und als ich wieder kam, waren sie angezogen oder bereit, sich anziehen zu lassen.

Ihrer Meinung nach reagieren immer mehr Eltern und Erwachsene nicht mehr aus einer natürlichen Intuition gegenüber Kindern. Handelt es sich bei den Beziehungsstörungen also um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen?

Ja. Früher hatte ich Einzelfälle mit solchen Symptomen, die auf psychische Probleme der Eltern zurückzuführen waren. Inzwischen betrifft das Phänomen gesunde Eltern aus der Mittel- und Oberschicht, ebenso wie Lehrer und Erzieher.

Wie sieht es an den Kindergärten und Schulen aus?

Die Kindergärten haben «Neigungsgruppen», das heisst offene Strukturen, in denen Kinder frei wählen können, in welcher Gruppe sie arbeiten wollen. Dadurch verändern sich Raum, Gruppe und Bezugspersonen ständig, was für Kinder in diesem Alter eine Überforderung darstellt. Auch die Unterrichtsformen an den Schulen haben sich total verändert. Es gibt Gruppentische mit wechselnden Betreuungspersonen. Im Vordergrund steht Freiarbeit, das heisst, dass jedes Kind nach seinem Lerntempo arbeiten kann, aber häufig nicht muss. Vielerorts sind Hausaufgabenkontrolle und Notengebung weggefallen. Es werden partnerschaftliche Lernkonzepte praktiziert. Die Kinder versorgen sich beim sogenannten Buffetunterricht mit Lernmaterialien und sollen auf diese Weise zu selbständigem Arbeiten angeregt werden. Aber die Kinder in diesem Alter lernen personenbezogenen, das heisst für eine Lehrperson, und sie brauchen deren Anleitung. Dieser Gehorsam hat nichts mit Drill zu tun, sondern ist das natürliche Verhalten von Heranwachsenden gegenüber einer Leitfigur.

Dann betrachten Sie diese pädagogischen Reformen im Kindergarten und in der Grundschule als kontraproduktiv?

Ja, denn selbständiges Arbeiten kommt in der Entwicklung viel später. Die heutige Unterrichtsform widerspricht neurologischen Erkenntnissen. Auch die fehlenden schulischen Leistungen vieler Kinder spiegeln das wider. Als Folge musste man die Erwartungen runterschrauben. In Nordrhein-Westfalen musste ein Grundschüler früher 4000 Wörter schreiben können, heute sind es 1000. Ein weiteres Symptom der fehlenden Reife ist die zunehmende Suchtgefahr im Jugendalter. Ein vor allem lustorientierter Mensch kann dieser kurzzeitigen Befriedigung kaum widerstehen.

Was kann verändert werden?

Leider hat man Freud und Co. in die Mottenkiste gepackt. Sein Phasenkonzept ist aber nach wie vor berechtigt. Auch Anna Freud hat den frühkindlichen Narzissmus als Durchgangsphase eindrücklich beschrieben. Inzwischen herrscht leider die weitverbreitete Meinung, dass sich die menschliche Psyche quasi von allein entwickle. Aber die positiven psychischen Funktionen bilden sich erst im Lauf der Kindheit aus, und zwar vor allem dadurch, dass die kindliche Psyche ein erwachsenes Gegenüber als Begrenzung der eigenen Individualität wahrnimmt. Das geschieht vor allem dadurch, dass ein Kind ab zwei Jahren nicht immer alles sofort bekommt, sondern auch mal warten muss. Nur so entwickelt sich eine Frustrationstoleranz. Die kindliche Psyche muss gebildet werden.

Wie wird die kindliche Psyche gebildet?

Psychische Funktionen wie Arbeitshaltung oder Frustrationstoleranz werden wie zum Beispiel das Lesen und Rechnen von Nervenzellen ausgeführt. Wird eine Nervenzelle durch einen bestimmten Reiz aktiviert, dann übernimmt sie ab diesem Zeitpunkt eine bestimmte Aufgabe. Je mehr die Nervenzelle trainiert wird, desto mehr automatisieren sich die Abläufe, die die Zelle zu leisten hat. Wenn Sie Ihrem Kind etwa regelmässig sagen, dass es die Zähne putzen muss, wird es das irgendwann selbständig tun. Das gilt auch für andere Prozesse wie die Körperhygiene insgesamt.

Woher wissen Eltern, was sie ihren Kindern zumuten können?

Wenn Eltern Kinder als Kinder ansehen, handeln sie intuitiv. Dann versteht es sich von selbst, dass psychische Funktionen vergleichbar dem Lesen, Schreiben, Rechnen eingeübt werden müssen. Solche Trainingsprozesse sind oft sehr langwierig. Nehmen Sie zum Beispiel die Arbeitshaltung: Eltern leiten ihre Kinder ab dem ersten Grundschuljahr zu den Hausarbeiten an und kontrollieren, ob diese vollständig ausgeführt sind. Eine derartige Begleitung ist bis zum 14. Lebensjahr erforderlich. Die kontinuierliche liebevolle Anleitung durch die Eltern führt dazu, dass das Kind diesen Ablauf irgendwann verinnerlicht hat. Durch dieses kontinuierliche Training verschiedener Funktionen bildet sich allmählich in den ersten zwanzig Lebensjahren die menschliche Psyche heraus.

Was raten Sie Eltern und Erziehern?

Mein Buch ist kein Ratgeber. Ich suche auch keine Schuldigen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass ohne die psychische Reifeentwicklung des Kindes alle pädagogischen und sozialpolitischen Reformen scheitern werden. Als Erwachsener sollte ich überprüfen, ob ich mich in einer Beziehungsstörung befinde. Denn Kinder haben nur eine Chance auf eine gesunde Reifeentwicklung, wenn sie als Kinder gesehen werden.