Bei der Integration von autistischen Jugendlichen in die Arbeitswelt bestehen zahlreiche Herausforderungen, die beachtet werden müssen. Wie kann mit geeigneten Lösungen darauf reagiert werden?
Arbeitsintegration bei Asperger
1. Eingliederungsmassnahmen, Theorie und die Subjektivität der Asperger- Lehrlinge
In meinem Erstbeitrag «Asperger als Invalidität? – Die Prägung eines neuen versicherungsmedizinischen Begriffs» habe ich darüber berichtet, wie Übergänge für Asperger vergleichsweise schwieriger sind als für andere Jugendliche, da sie mehr Zeit brauchen, um sich an neue Situationen anzupassen.
In diesem Beitrag geht es darum, was es für geeignete Lösungen in der Ausbildung und in der beruflichen Eingliederung junger Asperger gibt.
Zwischen Sommer 2018 und 2019 werden die Mehrheit meiner Asperger- Informatiker-Klienten, die meine Praxis im Rahmen der Mitwirkungspflicht besuchen, diplomiert und damit für den «ersten Arbeitsmarkt» tauglich. Sie sind theoretisch in der Lage, sich selber auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bewerben. Die IV-Interventionen, die nicht selten seit der Kindheit geleistet worden sind, sollen sistiert werden. (Und somit auch mein Auftrag der Mitwirkungspflicht).
Wir leben in Zeiten der protrahierten Pubertät: alles schiebt sich nach vorne. Eine Frau wird immer «später» Mutter. Mit einer Lebenserwartung von 80 und mehr, ist heute das Alter von 50 Jahren nicht mehr dasselbe, wie 50 Jahre bei unseren Eltern… Es scheint, dass wir alle später „reifen“. Bei Aspergern (und in meiner Erfahrung auch ADHSlern) ist das klar ersichtlich und auch beneidenswert: Sie sehen jünger aus als sie sind. Wenn sich im Leben alles nach vorne schiebt, wieso sollte der Eintritt in die Berufswelt eine Ausnahme sein und «rechtzeitig» erfolgen?
Nach dem Vorsatz „die verlängerten Reifezeiten“ zu respektieren, habe ich im italienischen Lehrsystem zurückgeblättert. Italienische Lehrlinge müssen 5 Jahre die eine sekundäre Schule besuchen, bis sie mit 19 «diplomiert» sind: Geometer, Buchhalter, Coiffeure usw. werden nach 2 Jahren Allgemein-Ausbildung, die zur obligatorischen Schule gehört, (3 Jahre) fachspezifisch unterrichtet.
Sie erhalten somit nur eine winzige praktische Erfahrung in dem Beruf, den sie ausüben sollen. Werdende Lehrerinnen besuchen z.B. einmal pro Monat eine Schule, Geometer haben während der Ausbildung einmal pro Monat auf einem Feld am Stadtrand eine praktische Erfahrung gemacht, das Ganze als einzelne Stunden und zwischen die anderen theoretischen Fächer gepfercht. Diese Schüler fangen erst nach dem Diplom mit der Arbeit an, nämlich mit unbezahlten Praktika (tirocinio obbligatorio e non retribuito!) die je nach Richtung einige Jahre dauern können. Tja, das italienische Schulsystem ist kein empfehlenswertes Modell, das sich jedoch in einer stetig wackligen wirtschaftlichen italienischen Realität gut nachvollziehen lässt.
Trotzdem, wenn ich meine helvetischen Klienten sehe, die sich selbst mit 19 als „Loser“ definieren, weil sie es nicht schaffen, in der Lehre mitzuhalten, weil sie mit dem System nicht Schritt halten können und von allen Seiten bedrängt werden – nur damit sie „funktionieren“ – dann denke ich an italienische Gleichaltrige, die weder Fisch noch Vogel sind und die wirtschaftlich noch nicht integriert sein dürfen/müssen. In Anbetracht der erwähnten protrahierten Pubertät, finde ich die berufliche Ausgangslage der Italiener angemessener.
Was ich am italienischen System für Autisten besser finde, ist die Möglichkeit, dass sie sich zuerst mit der Theorie befassen können (2-3 Jahre Monoblock – Theorie), bevor sich die Jugendlichen dann in die soziallastigen Arbeitsumstände einarbeiten müssen (2-3 Jahre Betrieb).
Auf diesem Weg habe ich bald einmal die entsprechende helvetische Variante entdeckt, zum Beispiel bei der Stiftung Informatik für Autisten, die über verschiedene Ausbildungsbetriebe verfügt. Dort ist es möglich, zuerst eine Berufsvorbereitung zu besuchen, und erst danach folgt die eigentliche Grundbildung. – Diese Art Lösung würde die Überforderung der Jugendlichen lösen, wenigstens für ein paar Jahre.
Überfordert sind junge Asperger teilweise schon mit dem Zurücklegen der unter-schiedlichen Schul- und Arbeitswege, zumal wenn diese in Verlauf der Woche wechseln. Viele berichten, dass sie es nicht schaffen, sich an die Wochenroutine mit darin enthaltenen 2 Schultagen zu gewöhnen, die oft auch nicht nacheinander erfolgen, und anderseits der Lehrbetrieb, den sie mehrheitlich vorziehen und wo sie sich wohler fühlen. Fast überflüssig ist zu erwähnen, dass wenn ÜK angesagt sind, alles noch komplizierter wird.
Fazit: Trotz all den angebotenen Hilfestellungen brauchen Asperger-Autisten mehr Zeit um die Übergänge zu meistern. Sie gewöhnen sich nicht daran.
Warum sind Übergänge so schwierig für Autisten? Autisten pflegen die «Gleichness», sie bevorzugen ein vertrautes, bekanntes Umfeld, sowohl im privaten Bereich wie auch bei der Arbeit. Sie schauen, dass sich nichts daran ändert und bringen gerne auch Ihren Beitrag, damit es so bleibt: Vom Jogurt im Schrank bis zum Stuhl im Büro, dem Ferienort usw. sie lieben es, das Gewohnte zu perfektionieren und freuen sie sich im Voraus.
Unterbrechungen jeglicher Art destabilisieren diese Menschen, die Bottom up und digital funktionieren, vom Detail ins Allgemeine – und nicht umgekehrt wie Neurotypische. Sie haben Schwierigkeiten, den roten Faden wiederaufzunehmen und sind nicht „Multitasking“. Beispiel dafür sind einige meiner Klienten, die der Mutter sagen, ich komme gleich“, aber jetzt wo du mich unterbrochen hast, brauche ich noch mehr Zeit, um fertig zu werden. (Ein Musterbeispiel ist im Film „Phantom Thread“ dargestellt, wo der Hollywoodstar Daniel D. Lewis, der seit langem nichts mehr zu sich genommen hat, und den seine Assistentin bei der Arbeit mit dem Angebot einer Tasse Tee unterbricht, beschimpfend erklärt, dass sie ihn durch die Unterbrechung aus seiner schöpferischen Phase herausgerissen hat und diese nie mehr wird wie vorher.)
Wenn für einen Autisten ein Ausbildungsgang fertig ist und sie in eine neue Schule müssen; oder, wenn sie sich bewerben sollen, aber auch wenn sie die Ferien an einem anderen Ort verbringen als gewohnt, bzw. wenn sie nach den Ferien wieder in die Ausbildungsstätte zurücksollen, oder dies gar an jedem Wochenende, erleben sie oft Alpträume.
Übergänge sind Gift für Autisten, und nicht wenige landen deswegen im Spital. So erbe ich einige Klienten mit einem Cocktail an Medikamenten und einer tiefen Depression, bis das Rad des Helfernetzes und die entsprechenden Maßnahmen wieder in Gang kommen. Bis dann drehen diese Asperger, bzw. die high functioning Autisten durch.
Auf der Suche nach Anschlusslösungen, nach einem geeigneten Ausbildungs-Modell, das auch arbeitsintegrationsfördernd wäre, habe ich die Rafisa besucht, einen der Betriebe im Kanton, woher viele Asperger Lehrlingen stammen, die ich ambulant betreue.
Die Kohorte von jungen Informatikern, die bald den Lehrabschluss machen sollten, ist für den ersten Arbeitsmarkt nicht ausgerüstet, was allen Sorgen bereitet.
Auf der Suche nach konstruktiven Lösungen habe ich Fälle eingesehen und analysiert, wie sich die Familien selber geholfen haben: Zeit gewinnend, z.B: durch eine Block-Modell Studie und/oder ev. eine Verlängerung des Studiengangs.
2. Der Ausbildungsort, die Objektivität der Lehrlinge
In der Rafisa Informatik GmbH werden junge Asperger zu Informatikern ausgebildet. Sie folgen dem klassischen Lehrlings-Bildungssystem der Schweiz, ein duales System, dass die Ausbildung jede Woche in praktische Tätigkeit im Betrieb und theoretische Tätigkeit in der Schule unterteilt. Eigentlich sind es 3 Bildungsorte, denn die überbetrieblichen Kursorte sind auch zu berücksichtigen.
Herr Schärer, Betriebsleiter der Rafisa, erklärt mir, wie die Bedürfnisse der Lehrlinge nach Strukturiertheit, Überschaubarkeit und Einfachheit berücksichtig werden. Die Arbeitsplätze der Lehrlinge werden in jedem Bereich, wo sie gerade beschäftigt Im Betrieb sind auch Ruheräume vorhanden. Die Ausbildner führen Projekte mit Hilfe der Lernenden durch. Diese beinhalten die Entwicklung, den Aufbau und den Betrieb der firmeneigenen IT-Infrastruktur, sowie verschiedene externe Aufträge von Kunden des ersten Arbeitsmarktes.
In der Technischen Berufsschule Zürich hat jeder Lehrling während den 4 Jahren die an den gleichen 2 Tagen der Woche Unterricht. Auch die Lehrer werden im Verlauf des Schuljahrs nicht gewechselt. In Grunde genommen achten Betrieb und Schule darauf, dass dieselbe Struktur vier Jahre lang angeboten wird. Die überbetrieblichen Module werden auch am gleichen Ort durchgeführt. Unter diesen Umständen profitieren nur 3 von 50 Lehrlingen von zusätzlichen Massnahmen vom Nachteilausgleich und nur ein Lehrling der Rafisa besucht eine kleine Klasse. Es gibt ausserdem eine gute Kommunikation zwischen Schule und Betrieb. Es ist auch möglich, Unterstützung für die Schulaufgaben im Betreib zu erhalten; und vor den ÜK werden regelmässig Vorbereitungskurse durchgeführt. Die eingeführten aktuellen Maßnahmen während der Ausbildung und das Helfernetz, das jeweils aufgebaut wird, helfen für die Absolvierung einer guten Ausbildung. Sie beseitigen jedoch nicht die Probleme beim Arbeitsbeginn: Die Wirtschaft zeigt zu wenig Bereitschaft, Arbeitsstellen für Asperger zu schaffen, was für die Absolventen die Stellensuche noch zusätzlich erschwert. Die Zahl der Diplomierten ist zwar zweistellig, die Anstellungsquote ist aber einstellig!
So teilen auch die Ausbildner mit mir dieselben Sorgen für die gemeinsamen Klienten im Wissen, dass die Schwierigkeiten nach einer guten Ausbildung nach vorne geschoben werden.
Mittlerweile glorifizieren die Medien die guten Potentialitäten der Asperger, dies besonders für die Informatikbranche (hervorragendes analytisches Denken, Logik, Detailgenauigkeit, Ehrlichkeit, Ausdauer, Fehlerjäger usw.), so dass der Allgemeinheit das Bild des „kalten Genies“ geläufig ist, das wortlos und schnell informatische Probleme löst.
Asperger können nach aussen hin eine gute Fassade aufrechterhalten, so dass ihre Probleme auf den ersten Blick nicht gleich sichtbar sind. Sie brauchen aber länger als Neurotypische, die manchmal Abenteuerlust auf Ausprobieren haben und deshalb etwas Neues wagen. In einem ausbildenden Micro-Ambiente wie der Lehre gelingt es den jungen Aspergern, sich in der Freizeit genügend zu erholen, um die Heraus¬forderungen der Anpassungen zu bewältigen.
Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie besuchen ein Krafttraining. Nach geraumer Zeit ist der Muskelkater verschwunden und Sie können entsprechend und nach Schema immer mehr Gewichte heben, ausserdem es ist egal, an welchem Gerät sie trainieren, Sie merken auch nicht, dass die Geräte in verschiedenen Firmen hergestellt worden sind.
Autisten gehen durch die Alltagroutine wie jemand beim ersten Fitnesstraining; man fühlt sich schwach und tollpatschig, denn trotz langsamer Gewöhnung reicht eine Baustelle, die die Verschiebung der Tramhaltestelle verursacht, um den Tag zu verderben.
Ich muss ausserdem feststellen, dass die Kohorte der von mir betreuten Informatiker eine Minderheit ist unter den restlichen jungen Aspergerklienten. Noch dazu mit der Zeit scheinen mir die Unterschiede zwischen jungen Neurotypischen und Aspergern immer vager, leider so vage wie das Konzept der vorgeschlagenen „Arbeitsnische“ auf dem ersten Arbeitsmarkt als Anschlusslösung für junge Asperger.
Zum Auffangen der Diskrepanzen zwischen dem unterstützenden Lehrbetrieb und einer fordernden Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt braucht es Zwischenlösungen. Die Forcierung der Eingliederung in dem ersten Arbeitsmarkt stellt für einige Betroffene eine unzumutbare Überforderung dar und kann wirtschaftlich teuer werden. Autisten wollen eigentlich dasselbe wie Neurotypische: Sie wollen einen Beruf lernen und baldmöglichst selbständig sein. Sie wollen sich selber sein, aber nicht auffallen, sie möchten dieselben Chancen wie die Neurotypischen haben, jedoch mit der Respektierung des eigenen Tempos.
Asperger erfüllen nur zum Teil die Items des Mini-ICF-APP (Instrument zur Fremdbeurteilung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen). Dieses wird in der Praxis zur Begutachtung von Arbeitskräften angewendet, und basiert auf Funktionalitätskriterien, die sie sehr aktuell und versicherungsmedizinisch von unzweifelhaften Nutzen sind. Jedoch sind die ICF-Kriterien zu soziallastig und Autisten kommen mit einigen Rubriken schwer zu recht.
Die spannungsgeladene Zwischenzeit nach dem Diplom bis zur ersten Arbeitsstelle, bzw. die Übergangszeit, wo sie noch keinen Anschluss an die Arbeitswelt haben, ist ein gefährlicher Übergang. Das gilt aber auch für die ältere Asperger, solche, die es vor der Diagnose Ära geschafft haben eine Stelle auf dem ersten Markt zu finden, und die aus diesem Grund offiziell keinen Autismus haben und denen beispielsweise aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt worden ist. Sie alle haben Schwierigkeiten, sich zu bewerben, finden den Weg zum RAV nicht usw. Deshalb landen leider einige Autisten dann im Spital. Die IV hat nach anfänglichen Bedenken und fachlicher Beratung dafür Verständnis gezeigt.
Es scheint daher, dass inzwischen das bekanntgewordene Problem der Übergänge überwinden, der Habituation, im Micro-Ambiente der Lehre relativiert worden ist. In dem Makroambiente der Arbeitsmarkt ist es aber noch zu lösen.
Deshalb das Motto: Übergange begleiten, bzw. anschliessende Lösungen anbieten, und die Autisten keine längeren Zeiten lassen, wo sie ohne Struktur und auf sich gestellt sind. Um fehlende Schnittstellen abzubauen, in die junge Asperger nach dem Diplom fallen könnten, könnte man sie weiter begleiten. Das Netzwerk von Auftraggebern könnte ein Praktikum anbieten. Dies könnte die helvetische Anpassung der «Italienischen Variante» sein, der «tirocinio obbligatorio non retribuito» – als Lösung also ein «zeitlich individuell angepasstes, entlohntes Praktikum».
Ein Praktikum zum Berufseinstieg könnte für junge Diplomierte so lange dauern, bis sie in der Lage sind, einen Vertrag auf dem ersten Arbeitsmarkt zu unterschrieben, bzw. bis die Arbeitgeber sie definitiv anstellen könnten, als die Diplomierte so weit sind. Ein «zusätzliches Praktikum» würde der Reifezeiten der Jugendlichen gerecht werden, wäre kostenneutral und nicht stigmatisierend. Die IV, die die «alten und gut bekannten Versicherten» verabschieden könnte, wäre entlastet.
Dr. med. Alessia Schinardi
alessia.schinardi@hin.ch