Wir bewerten überall. Egal, ob es sich um Autos, um Häuser, um Kleidung oder Ferien handelt, wir vergleichen und bewerten ständig. Es gibt zahlreiche Plattformen, die mit Bewertungen ihr Geld verdienen. Wurde ein Hotel gut bewertet, so buche ich eher Ferien, als wenn diese Bewertung schlecht ausfällt. Daher erstaunt es nicht, dass auch in der Bildung bewertet wird. Ein Abschluss, somit eine positive Leistungsbewertung, geniesst in unserer Gesellschaft ein hohes Ansehen. Nicht umsonst heisst der Lehrabschluss in der Schweiz EFZ (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis). Hat man einen Abschluss erworben, gilt man als «fähig».
Brauchen wir Noten?
Da wir also einen grossen Wert auf Bewertungen legen, sollte uns das Notensystem der Schulen ja eigentlich erleichtern, doch das tut es nicht. Noten werden angenommen, wenn diese den Erwartungen entsprechen. Es ist gleich wie bei den Hotels, mit guten Bewertungen wirbt man, mit schlechten nicht. Ist das der Fall, spricht man von messbarem Können, guten Leistungen und Kompetenzen. Fallen Noten jedoch nicht wie erwartet aus, wird das System hinterfragt und darauf hingewiesen, dass Vergleiche selten objektiv sind. Es ist also für Ihre Wahrnehmung entscheidend, wie die Note ausfällt.
Was nun? Sollen wir die Bewertungen weglassen?
Selektionierung
So idealistisch wir die Schule und die Bildung auch ansehen möchten, schlussendlich wird eine Leistungsselektion durchgeführt. Spätestens nach der Primarschule wird ein bestimmter Bildungsweg eingeschlagen. In der Berufsausbildung geht dieses System weiter, je nach Abschluss stehen einige Türen offen oder eben nicht. In der Schweiz haben wir das Glück, jede Türe öffnen zu können. Mit Fleiss und Geduld ist fast jeder Weg auch zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich. Die Grafik des Bundesamtes für Statistik zeigt deutlich, dass es immer einen Weg gibt. Er benötigt vielleicht viel Zeit und Arbeit, aber der Weg besteht.
Wie eine Schule geführt wird, welche Schwerpunkte gesetzt werden und was man von den Kindern verlangt, hängt auch stark von der politischen Situation im Land ab. Die Zukunft der Kinder und der Einfluss der Wirtschaft wird immer wieder als Argument für Noten angegeben, doch all die Einstufungs- und Eignungstests zeigen auf, dass sich die Wirtschaft nicht auf die Selektion der Schule verlässt. Wären die Noten also wirklich eine genaue Messung der Leistung, wäre dieser Aufwand umsonst.
Kontrolle
Für Eltern sind Noten vermeintlich leicht lesbar. Es hilft einzuschätzen, wo das Kind steht und was es geleistet hat. Aus diesem Grund sind Eltern in vielen Fällen froh um Noten, weil sie als Orientierung dienen. Da eine Zeugnisnote aus vielen Faktoren besteht, trügt dieses Bild, welches sich in vielen Köpfen verankert hat.
Also sind Noten doch etwas Gutes?
Noten sind nicht allgemein schlecht, es ist jedoch wichtig, sich bewusst zu sein, wie die Noten entstehen und dass verschiedene Faktoren diese beeinflussen können. Da besonders seit dem Lehrplan 21 der Fokus auf den Kompetenzen liegt, finde ich das System mit der Benotung überholt. Entweder wird eine Kompetenz erreicht oder eben nicht. Diese zwei Möglichkeiten bestehen, denn die Note 4 sagt eigentlich auch nur aus, dass ein Ziel erreicht wurde. Danach wird noch gemessen wie gut. Auch nach unten ist es klar, unter einer 4 ist es «ungenügend», mehr muss eigentlich nicht stehen, das Ziel wurde nicht erreicht.
Wie weiter mit den Noten?
Ich persönlich würde die Noten abschaffen und durch «erreicht» und «nicht erreicht» ersetzen, da nun Kompetenzen gefragt sind, was aus meiner Sicht auch sinnvoll ist. Mir ist jedoch bewusst, dass dies ein Wunschdenken ist. Mit der Einführung des Lehrplans 21 wäre dieser Schritt möglich gewesen, doch der wurde leider verpasst. Ob es fehlender Mut oder ein bewusster Entscheid war, weiss ich nicht. Die Chance wurde nicht genutzt und deshalb erwarte ich auch langfristig keine Änderung in diesem Bereich
Wichtig für Eltern
Der wichtigste Punkt für Eltern ist aus meiner Sicht, dass Sie nicht zu viel Gewicht auf Noten legen. Die Kinder werden damit unter Druck gesetzt, was nicht förderlich ist. Noten werden nicht an jeder Schule und bei jedem Lehrer gleich gemacht. Die Bewertungen und die Tests unterscheiden sich, daher sind Vergleiche unsinnig. Seien Sie genau bei Ihrer Kritik, sollte eine Note nicht wie gewünscht ausfallen. Die Leistung beim Test war ungenügend, nicht die gesamte Leistung und schon gar nicht Ihr Kind.
Möglichkeiten für die Schule
Da der grosse Umbruch trotz Lehrplan 21 ausgeblieben ist, sind wieder einmal die Bildungseinrichtungen gefragt und hier gibt es einige interessante Ideen. Doch egal, ob sie mit Farben, Noten oder sonst einem System eine Rückmeldung erhalten, es ist und bleibt eine Bewertung. Wie können wir diese Bewertung so gestalten, dass es den Kindern und den Eltern einen Nutzen bringt und die Individualität des Kindes zum Ausdruck kommt?
Immer wieder erlebe ich in meiner Rolle als Heilpädagoge, dass ich ein Kind für die Leistungssteigerung lobe und es danach eine Note erhält, welche das nicht zum Ausdruck bringt. Dadurch sinkt die Motivation des Kindes und die Stimmung gegenüber der Schule. Was können wir also tun und uns trotzdem an die Regeln halten? In einer meiner Anstellungen habe ich ein tolles System gesehen, welches sich positiv auf die Lernmotivation der Kinder auswirkte. Mit den Kindern wurde zu Beginn des Semesters eine Zielnote anhand der Leistungsmöglichkeiten vereinbart. Diese gab trotz klassischer Bewertung eine persönliche Rückmeldung zur Leistung. Die Kinder und die Eltern sahen so die Fortschritte und konnten sich über die erreichten Ziele freuen.
Ich wünsche mir, dass mehr Schulen mutig nach Lösungen suchen und diese auch umsetzen!
Michael Berger arbeitet als Schulischer Heilpädagoge und ist als Lernberater tätig. Zudem unterstützt er Eltern und Lehrpersonen rund um das Thema Lernen wie auch im sonderpädagogischen Bereich mit seiner Plattform www.gezielt-lernen.ch