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Der tägliche Kampf von Eltern mit Kindern mit einer Behinderung

1,8 Millionen Menschen leben in der Schweiz mit einer Behinderung. Und dennoch erfahren die Menschen tägliche Ausgrenzung: in der Schule, am Arbeitsplatz oder Wohnort. Andrea Kalsey hat eine Tochter mit Trisomie 21 und die Plattform «Mensch21!» ins Leben gerufen. Ein Gespräch darüber, wo es hierzulande am meisten hapert und wie man Verbesserungen erreichen kann.

Bild: © AnnaStills/shutterstock.com

Kinder mit einer Behinderung sollen möglichst eine Regelschule besuchen können. Das wird jedoch nicht in jedem Kanton befolgt. Ist man in der Schweiz dennoch auf einem guten Weg – was denken Sie?

Die Schweiz hat 2014 die UNO-BRK, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, ratifiziert. Damit hat sie sich dazu verpflichtet, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu lassen. In der Schweiz gibt es 1.8 Millionen Menschen, die mit Behinderungen leben. Für sie blieben die Forderungen der UNO-BRK bis heute ein unerreichbarer Traum.

Weshalb?

Sie können ihren Wohnsitz nicht frei wählen, finden keine Arbeitsstelle, können nicht hindernisfrei an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen etc. Wären die Forderungen der UNO-BRK umgesetzt, würden wir von einer inklusiven Gesellschaft reden. Eine Gesellschaft, wo es nicht drauf ankommt, welche Hautfarbe oder welche Behinderung jemand hat. Davon sind wir aber weit entfernt. Wir leben in einer separativen Gesellschaft. In der Schweizer Verfassung steht, dass jeder seinen Wohnsitz frei wählen darf. Menschen mit Behinderungen können das häufig nicht, weil sie beispielsweise keine rollstuhlgängige, bezahlbare Wohnung finden oder weil der Vermieter keinen Menschen mit einer geistigen Behinderung in seiner Wohnung leben lassen möchte.

Das gilt für die Erwachsenen. Wie aber ist es bei den Kindern?

Wann haben Sie das letzte Mal ein Kind mit Trisomie 21 gesehen? Wann hat Ihr Kind mit einem gespielt, um es kennenzulernen? Warum sieht man diese Kinder so selten? In der Schweiz haben die Kantone sehr viel Selbstbestimmungsrecht. Bis Ende des 20. Jahrhunderts wurden Kinder mit Behinderungen gar nicht in die Volksschule aufgenommen, sondern haben eine separate heilpädagogische Sonderschule besucht. Dadurch kamen Kinder ohne Behinderungen nur sehr selten in Kontakt mit Kindern mit Behinderungen. Anfang Jahrtausend haben die Lehrer aller Kantone, EDK, beschlossen, dass sich in Zukunft die Kantone darum bemühen müssten, dass möglichst alle Kinder in die Regelschule kommen sollten, – sodass alle zusammen in die Schule gehen dürfen. Die Übereinkunft heisst «Konkordat Sonderpädagogik» und gilt seit 2007. Einige Kantone haben sich sehr schnell daran gemacht, die Gesetze und Verordnungen anzupassen. Einige sind immer noch dran – und ein paar wenige haben nicht mal angefangen.

Und wie sieht es im täglichen Leben aus?

Auch wenn die Gesetze angepasst werden, ändert sich faktisch wenig für Kinder mit Behinderungen. Obwohl in den Augen der EDK alle Kinder Kinder sind und nicht zwischen Kindern mit Behinderungen und Kindern ohne Behinderungen unterschieden werden soll, halten sich die Kantone und die Schulämter nicht daran. Sie sollten von Kindern und ihren Bedürfnissen reden. Der medizinische Status der Behinderung sollte keine Rolle spielen. Trotzdem werden Kinder mit Behinderungen weiterhin aufgrund ihrer Behinderung separativ beschult, obwohl die UNO-BRK das nicht vorsieht – und auch die EDK nicht.

Für die Eltern kann das ganz schlimm sein. Sie müssen sich mit Schulinspektoren und Gemeinden anlegen nur um am Ende in eine Gemeinde ziehen zu müssen, die ihrem Kind die Möglichkeit gibt, in die Volksschule zu gehen.

Sie sprechen es an: Die Theorie unterscheidet sich oftmals von der Praxis. Wer nicht «der Norm entspricht», hat in der Schule meist einen schweren Stand. Wie erleben Sie das als eine Mutter, welche mit der Problematik konfrontiert ist? Werden Kinder mit einer Behinderung – entgegen der Empfehlung – zu schnell in eine Sonderklasse «abgeschoben»?

Was genau meinen Sie hier mit Sonderklasse? In Bern gibt es die KBF, also die Kleinklasse mit besonderer Förderung. Dort bleibt aber kein Kind. Das ist ein Umweg, wenn ein Kind in einer Klasse nicht mehr tragbar ist. Dann kommt es für eine befristete Zeit in diese Klasse. Im Kanton Bern gibt es auch Sonderklassen, das sind heilpädagogische Sonderklassen, welche physisch in einer Volksschule sind und deren Schüler*innen die Pausen mit den Regelschülern verbringen. Sie gehen aber eben trotzdem separativ zur Schule und gehören damit bestimmt nicht zur Elite im Schulhaus unserer hierarchischen Gesellschaft. Die Durchmischung findet kaum statt.

Und wer trifft die Entscheidung, wo das Kind beschult wird?

Es sind nicht mal die Kantone, die solches entscheiden, sondern jede Gemeinde. Der Schulinspektor hat viel Macht. Von diesen Personen hängt es ab, ob die Kinder das Glück der Integration erleben dürfen. Es ist sicher auch immer stark mit dem guten Willen von Lehrpersonen verbunden, ein solches Kind in die Klasse aufzunehmen, der Schulleitung, die den Willen haben muss, für das Kind zu kämpfen und eben die Gemeinde, welche die Finanzen spricht.

Und was können die Eltern tun, wenn sie mit einem Entscheid eben nicht einverstanden sind?

Die Eltern gehen daran kaputt, wenn sie sich gegen einen Separationsentscheid stellen. Es ist mit sozialem Mord gleichzusetzen, sich dagegen zu wehren. Mir sind mehrere Eltern bekannt, die in einen anderen Kanton ziehen mussten. Eigentlich ist jeder Entscheid zu rasch gefällt, wenn die Eltern nicht einverstanden sind. Die schlimmsten Fälle sind diejenigen, in welchen ein Kind jahrelang integriert war und aufgrund des zunehmenden Leistungsdrucks von den Mitschülern weggerissen wird. Wie soll sich ein solches Kind beispielsweise mit Trisomie 21 plötzlich wieder finden, wenn es in der Heilpädagogischen Schule auf Autisten trifft, die nicht reden!? Da macht man ganze Lebensperspektiven kaputt!

Die Regelklasse bietet nicht nur Kindern mit einer Behinderung viele Vorteile. Auch die anderen Schüler lernen von ihnen und entwickeln sich dadurch weiter. Wo gibt es weitere Vorteile?

Der Vorteil ist ganz einfach der: Wir sind eine heterogene Gesellschaft. Es gab und gibt Gesellschaften, die homogen sein wollen, nur eine Sprache sprechen und alles andere verbieten, nur eine Kultur leben und alle restliche Kultur verbieten, vielleicht noch Frauen ausschliessen… Je mehr wir jedoch ausschliessen, umso schlechter wird es der Gesellschaft gehen. Nur als Ganzes sind wir stark und kommen vorwärts. Wird das bereits in der Schule gelebt, muss das später im Erwachsenenleben gar nicht mehr infrage gestellt werden.

Auf der anderen Seite: Wo sollten die Grenzen gezogen werden? Wann spricht man von einer verantwortbaren Integration?

Aus meiner Sicht gibt es keine Grenzen. Wir sind alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Grösse, Gewicht. Die Bundesverfassung der Schweiz sagt es eindeutig im Artikel 8:

Art. 8.1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Art. 8.2 Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht … wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.
Art. 8.4 Das Gesetz sieht Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vor.

Und ja, Sie stellen die richtige Frage: Wo sollen die Grenzen gezogen werden? Im Kanton Bern galt gemäss Schulverordnung, dass ein Kind mit Behinderung separat beschult werden soll, wenn es mehr als acht begleitete Lektionen benötigt. Welcher Kopf hat diese acht Lektionen erfunden? Was kann meine Tochter dafür? Die Verordnung gibt es seit Januar 2022 nicht mehr. Trotzdem bekommt meine Tochter nicht mehr als acht Lektionen, weil sie sonst in die Heilpädagogische Schule müsse. Neu soll mittels eines Standardabklärungsverfahrens der Bedarf abgeklärt werden. Aber auch wenn der Bedarf feststeht: Niemand weiss, wo die Grenze zwischen integrativ und separativ gezogen wird. Deshalb hat sich für die Eltern mit dem neuen Gesetz faktisch nicht viel geändert. In den Köpfen der Behörden geistern weiterhin die alten Limitierungen, welche auch so angewendet werden. Und die Eltern rennen weiterhin gegen Wände aus Beton an.

Gerade die letzten zwei Jahre waren für die Schule nicht einfach. Es gibt einen Mangel an Lehrpersonen. Eine Integration verlangt aber auch nach Zeit und vielleicht zusätzlichen Ressourcen. Ist das ein Knackpunkt?

Ja. Aber es kann nicht sein, dass eine gesellschaftliche Lücke, die schon längst hätte geschlossen werden müssen, auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird. Wir sind doch eine solidarische und demokratische Gesellschaft! Es ist ganz klar Sache der Politik, dafür zu sorgen, dass Kinder mit Behinderungen zu ihrem Recht kommen. Es hat offensichtlich nicht gereicht, nur die UNO-BRK zu ratifizieren!

Gibt es weitere Projekte oder Ansätze, welche man künftig verfolgt, um das Thema weiter voranzutreiben?

Ich kenne nicht alle Projekte. Es gibt viele, grosse und kleine – überall in der Schweiz. Es fängt damit an, dass es selbstverständlich sein sollte, dass unsere Kinder die Kita, Musikschule, den Schwimmunterricht oder andere Freizeitbeschäftigungen besuchen dürfen. Heute müssen wir stets fragen, ob sie Kapazität für ein besonderes Kind haben. Vielfach gibt es in diesen Gruppen auffällige Kinder, die ein schwieriges Zuhause haben, weglaufen und für die Lehrpersonen sehr zeit- und energieintensiv sind. Trotzdem sind es häufig unsere Kinder, die zuerst rausfallen, wenn es nicht mehr geht. So ist man es sich gewohnt.

Weitere Informationen unter www.mensch21.ch.