Es ist wohl allgemein bekannt, dass die Beschäftigung mit den digitalen Medien das Belohnungszentrum im Gehirn anregt und somit zu Glücksgefühlen führt. Weshalb aber die dadurch entstehende Anziehung der digitalen Medien grösser ist als bei analogen Beschäftigungen und was das für Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche hat, wird oftmals unterschätzt.
Die Anziehungskraft der Medien – was viele Eltern nicht wissen
Obwohl Kinder von Anfang an über ein vollständig funktionierendes Belohnungszentrum verfügen, fehlen ihnen hemmende Strukturen, um dem Reiz der Belohnungen zu widerstehen respektive diesen auf später zu verschieben. Im Alltag mit Kleinkindern kann man dies durch die Anziehung von Esswaren, besonders Süssigkeiten, beobachten. Wenn man einem Kleinkind eine Süssigkeit hinlegt, wird es diesem Reiz kaum widerstehen können, selbst wenn man dem Kind für das Warten eine weitere Süssigkeit anbietet. Kleinkinder können solche Reize noch nicht kontrollieren und das Belohnungsgefühl aufschieben.
Bei den digitalen Medien wirkt dieser Anziehungseffekt noch stärker, weil die digitale Beschäftigung eine Berieselung von Glücksgefühlen auslöst, quasi wie ein riesiger endloser Sack Süssigkeiten. Somit brauchen Kinder noch länger, um entsprechende hemmende Strukturen zu trainieren, damit sie die Reize der digitalen Welt aufschieben und somit kontrollieren können. Das bringt mit sich, dass auch ältere Kinder bei der Beendigung der Bildschirmzeit plötzlich ein kleinkindliches Verhalten aufweisen, welches die Eltern von ihrem Kind sonst nicht mehr kennen. Das heisst aber auch, dass Kinder mit der eigenständigen Regulierung ihrer Medienzeiten noch schlicht überfordert sind. So wie ein Kleinkind, welches eine riesige Tüte Süssigkeiten bekommt, aber nur zwei davon täglich essen darf – Überforderung pur!
Weshalb die digitale Befriedigung tückisch ist
Aufgrund dieser Einflüsse auf das Belohnungszentrum und der damit einhergehenden Befriedigung kann die Mediennutzung auch eine beruhigende Wirkung haben und Emotionen regulieren. Tatsächlich nutzen viele Eltern (wissentlich oder nicht) eine digitale Auszeit, um ihr Kind abzulenken oder zu beruhigen. Allerdings wirkt eine langfristige emotionale Regulierung durch digitale Aktivitäten genau gleich wie eine Verhaltenssucht. Zuerst wird die Befriedigung durch das Verhalten genutzt, um die eigenen Emotionen zu regulieren und sich quasi zu beruhigen, bis man irgendwann gar nicht zur Beruhigung kommt, ohne dieses Verhalten und die entsprechende Befriedigung daraus – eine Abhängigkeit entsteht.
Aber das ist noch nicht alles: Die vielen schnellen, kurzen und niederschwelligen Belohnungen durch digitale Aktivitäten führen zu einer Befriedigung in einer geringeren Intensität als reale Erlebnisse. Als Beispiel kann man dazu einen Torerfolg im realen Fussball mit einem Torerfolg beim Fussball-Game am Bildschirm vergleichen. Im realen Erlebnis geschehen regelrechte Gefühlsexplosionen, am Bildschirm ist das Glücksgefühl weniger intensiv. Übrigens wissen wir auch, dass die Befriedigung in der direkten sozialen Interaktion, z. B. beim Fussballspiel auf dem Pausenhof, viel höher ist, als wenn man online mit Freunden spielt.
Allerdings erhält man von den digitalen Medien viel mehr und häufiger Glücksgefühle. Zudem sind die digitalen Medien ständig und überall verfügbar, was die Versuchung steigert, sich auf die weniger intensiven, dafür häufigeren Glücksmomente einzulassen, weil diese viel schneller verfügbar sind. Reale Glückserlebnisse verlangen immer eine gewisse Investition und es dauert länger, bis das Glücksgefühl erreicht wird. Die fehlende Aufschiebekompetenz hindert das Kind daran, den stärkeren Belohnungseffekt der realen Welt zu bevorzugen, weil die digitale Aktivität eine schnellere Belohnung anbietet. Genau gleich wie das Kleinkind, welches die Süssigkeit vor ihm sofort isst, auch wenn es mit einigen Minuten Abwarten eine zweite Süssigkeit erhalten würde.
Ungeahnte Langzeitfolgen
Wenn nun über längere Zeit die digitale Befriedigung überwiegt, kann das einen enormen Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche haben. Die Langzeitfolgen der digitalen Berieselung und kurzfristigen, niederschwelligen Belohnungen sind leider noch nicht genügend erforscht und doch gibt es hier klar beobachtbare Tendenzen: Durch die niederschwellige und ständige Verfügbarkeit der digitalen Beschäftigung wirken andere Aktivitäten viel weniger attraktiv oder gar langweilig, was zu einem Rückgang früherer Interessen und scheinbar ständiger Langeweile führt. Eltern beklagen sich oft, dass sie die «Bespassungs-Maschine» ihres «Null-Bock-Kindes» spielen müssen, wenn die Kinder mal nicht am Bildschirm sind.
Die Gewöhnung an schnelle Befriedigungsschübe führt zudem zu einer Steigerung der Impulsivität. Eltern merken oft, dass ihr Kind weniger Geduld hat, sich schnell über Kleinigkeiten aufregt oder ständig gestresst wirkt. Man kann sich somit auch vorstellen, welche Auswirkungen das auf die Leistungsfähigkeit während Hausaufgaben oder in der Schule hat – alles andere als hilfreich.
Was Eltern machen können
Es macht zunächst sicher Sinn, den Einfluss der schnellen, niederschwelligen Befriedigungsschübe durch die digitale Beschäftigung möglichst zu minimieren. Dazu sollten reale Belohnungserfahrungen aktiv gefördert und im Alltag routinemässig integriert werden, z. B. durch eine Selbstbeschäftigungs-Zeit vor der Mediennutzung. Als Hilfestellung kann vorher gemeinsam eine Ideenliste für das Kind erstellt werden, damit nicht die Eltern für die Bespassung zuständig sind, sondern das Kind Eigenverantwortung übernimmt.
Diese Eigenverantwortung wäre auch in Bezug auf die Mediennutzung ein Ziel, was aber aufgrund der fehlenden Aufschiebekompetenz der Kinder oftmals überfordert. Deshalb brauchen Kinder hier auf der einen Seite Möglichkeiten, um die Aufschiebekompetenz zu trainieren, aber auch Leitplanken, welche sie klar in ihrem Medienkonsum begrenzen. Grundsätzlich kann man dem Kind auch klarmachen, dass es schliesslich selbst mit seinem Medienverhalten entscheidet, wie eng die Eltern den Rahmen in Bezug auf seine Mediennutzung setzen müssen. Wenn das Kind zeigt, dass es verantwortungsvoll mit den Medien umgehen kann, können die Eltern auch mehr Freiheiten ermöglichen. Wenn das Kind mit dieser Verantwortung überfordert ist, müssen die Eltern diese übernehmen und entsprechend die Mediennutzung einschränken.
Wichtig: Hier geht es darum, das Kind in seiner Überforderung aufzufangen versuchen, ohne ihm Vorwürfe gegenüber seiner fehlenden Kontrollfähigkeit zu machen, sondern Verständnis zu zeigen und Hilfe anzubieten, damit es das nächste Mal die Herausforderung, z. B. den Übergang nach der Medienzeit, besser bewältigen kann. Und genau dazu gibt es viele einfache Methoden und nützliche Tipps – wie auch auf meinem YouTube-Kanal «Lösungen für die Medienerziehung».
Woran es oftmals scheitert
Eltern haben oftmals Hemmungen, sich in Bezug auf den Medienkonsum ihres Kindes durchzusetzen. Manchmal liegt es an einer Art Streitmüdigkeit. Manchmal fühlt man sich verunsichert, wie man den Rahmen setzen soll, weil scheinbar so viele andere Eltern den Medienkonsum ihrer Kinder kaum begrenzen. Eine Tatsache scheint Eltern dabei zu helfen: Viele CEOs grosser IT-Unternehmen wie Steve Jobs (Apple), Mark Zuckerberg (Meta) oder Bill Gates (Microsoft) sind oder waren beim Medienkonsum ihrer eigenen Kinder sehr restriktiv. Dies ist in diversen Interviews mit diesen Persönlichkeiten nachzulesen. Und diese Leute, welche den Einfluss der eigens kreierten digitalen Belohnungsschübe auf ihre Kinder bestens einordnen können, werden es vermutlich besser wissen als die Eltern aus dem Freundeskreis der eigenen Kinder.