Ein Kind mit einer Krankheit oder Behinderung ist ein Schicksalsschlag für die ganze Familie. Nicht zuletzt sollte auch das Geschwisterkind nicht vergessen werden. Aus diesem Grund rief der Verein Familien- und Frauengesundheit das Projekt «Geschwisterkinder» ins Leben.
Die Seite der Geschwisterkinder
Der 14-jährige Oliver spielt Ball mit seinem jüngeren Bruder Flavio. Er motiviert ihn, lobt ihn, zusammen haben sie Spass. In der nächsten Szene fährt die 16-jährige Anja ihre ältere Schwester Florina im Veloanhänger spazieren. Der siebenjährige Mario deckt seine drei Jahre jüngere Schwester Olivia liebevoll zu. Und da wäre noch Liam, 7, welcher mit seiner vierjährigen Schwester mit einem Helikopter spielt. Szenen, die sich in jeder Familie wohl ähneln und doch keineswegs den durchschnittlichen Alltag widerspiegeln. Denn eines haben sie gemeinsam: Die Geschwister haben alle mit einer Krankheit oder Behinderung zu kämpfen. Oliver, Anja, Mario und Liam sind sogenannte «Geschwisterkinder», ihr Bruder oder ihre Schwester ist also mit einer Behinderung zur Welt gekommen oder kämpft gegen eine Krankheit.
Mut machen
In ihrem gleichnamigen Film begleitete Co-Projektleiterin und Regisseurin Romana Lanfranconi vier Familien über mehrere Wochen. Sie dokumentiert, wie der Alltag aussieht, mit welchen Herausforderungen und Problemen die Familien zu tun haben – und nicht zuletzt zeigt der Film auf einfühlsame Art und Weise, welch schöne Momente sich daraus entwickeln. «Wir wollen mit dem Projekt das Empowerment der betroffenen Geschwister und deren Umfeld stärken, ihnen Mut machen, das Positive in der Situation zu erkennen und Hilfe anzunehmen», sagt Lanfranconi. Ebenfalls sollen Fachpersonen rund um die betroffenen Kinder sensibilisiert werden. Auch Gefahren müssten frühzeitig erkannt und Hilfestellungen angeboten werden.
Wenig erforscht
Der Verein Familien- und Frauengesundheit widmet sich Themen wie Geburt und Elternsein, Pflege von Angehörigen oder psychische Gesundheit. Auf das Thema Geschwisterkinder sei man durch eine Diskussion mit einem Kinderpsychologen gestossen, erinnert sich Lanfranconi. «Er hat uns erzählt, dass einige Institutionen vermehrt beginnen würden, den Fokus auf die Geschwister zu legen. Diesbezüglich gäbe es jedoch wenig Material.» Zusammen mit einer Fachgruppe wurden schliesslich Kernthemen, die Tonalität des Films wie auch ein Zielpublikum definiert. Anhand dieser Überlegungen halfen die Fachpersonen, Vorgespräche mit betroffenen Familien zu arrangieren. «Ich habe als Regisseurin zwölf Familien getroffen und mit ihnen Vorgespräche geführt», so Lanfranconi. Schliesslich entschied sie sich für vier Familien, welche nun im Film gezeigt werden.
Ehrliche Einblicke
Die Dreharbeiten seien sehr positiv verlaufen, man sei mit offenen Armen empfangen worden. Daraus entstanden sind ehrliche und authentische Einblicke in das Leben der Familien. Etwa, wenn die Mutter erklärt, mit welchen Selbstzweifeln sich ihr Sohn Mario herumschlägt, weil er sich die Schuld an der Behinderung seiner Schwester Olivia geben würde. Oder Liam, welcher das Wochenende lieber im Spital bei seiner krebskranken Schwester Elina verbringt, statt einer Einladung für einen Kindergeburtstag zu folgen. «Mich haben die Begegnungen auch persönlich weitergebracht, da mich ihre Offenheit dem Leben gegenüber, nebst allem, was Geschwister und Eltern leisten, stark beeindruckt hat», sagt auch Lanfranconi.
Schwieriger Spagat
Die Behinderung oder Krankheit eines Kindes ist ein Schicksalsschlag für die gesamte Familie. Die Pflege und Aufsicht benötigen viel Zeit, vieles muss rund um die Krankenhausaufenthalte organisiert werden, dem Kind mit einer Behinderung oder Krankheit gewährt man viel Aufmerksamkeit – ob bewusst oder nicht. So erklärt auch eine Mutter, dass Freunde und Verwandte sich stets nach dem Sohn mit der Behinderung erkundigt haben – der «gesunde» Sohn hingegen wurde vielfach ausser Acht gelassen. Das Kind mit einer Behinderung oder Krankheit zu pflegen, dabei jedoch dem Geschwisterkind die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, stellt häufig einen Spagat dar. «Bei jeder betroffenen Familie gibt es schwierige Zeiten, in denen die Eltern auf Bezugspersonen oder Hilfe von aussen angewiesen sind, damit das Geschwisterkind nicht zu kurz kommt», so Lanfranconi. «Ich habe aber gelernt, dass genau das für einen Bruder oder eine Schwester mit einem behinderten oder kranken Geschwister auch eine Chance sein kann.» Und wirklich: Die 16-jährige Anja beispielsweise nimmt ihre Schwester Flo ganz unkompliziert auf eine Shoppingtour in die Stadt mit. Oder die Geschwister Liam und Elina spielen die verschiedenen Krankenhausmomente mit ihren Spielsachen nach. «Ich habe viele unglaublich schöne und einzigartige Geschwisterbeziehungen kennengelernt», erinnert sich Lanfranconi. «Kleine Glücksmomente zwischen einem Kind im Rollstuhl und dessen Schwester oder einem Jungen mit Behinderung, der nur von seinem Bruder verstanden wird.»
Einzigartige Beziehungen
Und genau darin bestand auch die grosse Schwierigkeit, einen solchen Film umzusetzen. «Gerade, weil jede Situation und jede Geschwisterbeziehung so anders ist, war es eine grosse Herausforderung, einen 30-minütigen Film zu realisieren», sagt Lanfranconi. Mit dem Film wolle man betroffenen Familien Mut machen. Mut, über ihre Situation zu reden, Mut, sich Hilfe zu holen. «Eltern geben ihr Bestes. Und es ist nicht zu verhindern, dass es auch einmal stürmische Zeiten gibt, in denen die Geschwisterkinder zurückstecken müssen.» Wichtig sei aber, den Geschwisterkindern gegenüber wachsam zu bleiben und mit ihnen kleine Inseln zu schaffen – in denen eben nur sie im Mittelpunkt stehen. ++
Um möglichst breit auf die Situation der Geschwisterkinder und deren Familien aufmerksam zu machen, stehen der Dokumentarfilm wie auch eine Informationsbroschüre allen Interessierten kostenlos zur Verfügung.
Zusätzlich findet man auf der Seite www.geschwister-kinder.ch Links, wie sich betroffene Familien vernetzen, beraten und entlasten können.