Wenn andere Väter ihren Kindern die Geschichten vom kleinen Prinzen und seinem Leben auf einem fernen Asteroiden erzählen, kann Matthias Küffer seinen drei Kindern davon berichten, wie er sich diesen fernen Planeten etwas genähert und wie er die Erde von weit oben erlebt hat.
Ein Vater auf Höhenflug
Denn Matthias Küffer ist nicht nur Familienvater, sondern auch leidenschaftlicher Deltasegler, der immer neue und extreme Herausforderungen sucht.
«Ich hatte schon als Jugendlicher den Wunsch, auf dem Kondensstreifen am Himmel spazieren zu können», blickt Matthias Küffer auf die Ursprünge seiner Sehnsucht nach dem Fliegen zurück. Eine Sehnsucht, die sich auch durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Texten des ehemaligen Piloten Antoine de Saint-Exupéry weiter verstärkte.
Fliegen ist heute für den 43jährigen leitenden Psychologen und Schulleiter der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste am Spital Thurgau jedoch längst Mittel zum Zweck – Ziel ist nicht die Höhe oder ein bestimmter Landepunkt, sondern das Gefühl. Das physisch erlebte und psychisch wirkende Gefühl, Platz zu haben und seiner Seele Raum zu geben. «Wird es beim Sterben auch wieder so sein?», fragt sich Matthias Küffer, «werden wir ähnlich fühlen?“
Und nochmals stellt er die Verbindung zu Antoine de Saint-Exupéry und seinem Erlebnisbericht «Wind, Sand und Sterne» her. Auch ihm war die Flugmaschine kein Zweck, sondern Mittel, denn nur in der Überwindung des Widerstandes, den die Erde ihm leistet, findet der Mensch den Weg zu sich selbst, glaubt Saint-Exupéry. Dazu braucht der Mensch ein Werkzeug – was für den Bauer der Pflug ist, ist für den Piloten das Flugzeug. Das Fluggerät stellt den Menschen allen alten Welträtseln gegenüber und wird für ihn zum Mittel der Erkenntnis und Selbsterkenntnis: «Man lebt mit Winden, Sternen, Nacht und Sand, arbeitet als Mensch und sorgt sich als Mensch (…) und sucht seine Wahrheit in den Sternen».
Fokus auf Kinder und das Fliegen
Das Fliegen hat für den dreifachen Familienvater Matthias Küffer einen extrem hohen Ablenkungsfaktor, die Konzentration auf die Anforderungen des Elementes Luft und auf seinen Deltasegler schafft ein einziges Bild, auf das sich der Pilot ausrichten muss. «Beim Fliegen vergisst du die Zeit, weil du so fokussiert bist», beschreibt er dieses Gefühl, dieses «unglaublich gute Gefühl».
So schafft er sich beim Fliegen eine Welt, in der er nur für sich da ist, in der er etwas ausschliesslich für sich macht. Seit rund einem Jahr lebt Matthias Küffer von seiner Frau und seinen Kindern getrennt, und seither stehen die Kinder noch stärker im Mittelpunkt seines Lebens – wenn er mit ihnen zusammen ein Wochenende verbringt wie auch dann, wenn sie nicht bei ihm sind. «Daher wollte ich etwas für mich machen, nur für mich alleine», begründet er seine Motivation für sein extremes Flugprojekt.
Bereits 2004 hatte der erfahrene Deltapilot einen Höhenrekord mit seinem Fluggerät erzielt. Angehängt an einen Heissluftballon liess er sich auf über 10‘000 Meter ziehen, um sich dort mit seinem Segler auszuklinken. «Die Motivation für diesen Rekordversuch war, etwas zu wagen, etwas Urmännliches zu schaffen», blickt Matthias Küffer zurück. Denn im Gegensatz zur Frau, die der Welt Kinder schenkt, kann der Mann der Welt nichts hinterlassen – ausser erschafft etwas, wie es die deutsche Erziehungswissenschaftlerin und Autorin Marianne Gronemeyer in «Das Leben als letzte Gelegenheit» beschreibt.
Kalkuliertes Risiko
Der Rekordflug war ein Abenteuer, in welchem sich Matthias Küffer trotz seiner Erfahrungen aus einer heute über 25jährigen Aviatikkarriere bewusst einer Gefahr aussetzte. «Einem kalkulierten Risiko», berichtigt er, «so weit dieses kalkulierbar ist.» Ein Risiko, das er, wie er glaubt, damals nicht eingegangen wäre, wäre er bereits Vater gewesen. Doch entscheidend ist für den Piloten, der vor elf Jahren zum Drachenfliegen gekommen ist, die eigene Haltung gegenüber der Gefahr: «Ich suche nicht die Gefahr – ich habe nichts mit einem Stierkämpfer gemeinsam – ich suche das Leben.»
Matthias Küffer ist sich seiner Verantwortung gegenüber seinen Kindern bewusst, weiss aber auch, dass er diese nur wahrnehmen kann, wenn er sich selbst ernst nimmt, authentisch bleibt und sagen kann: «Das bin ich!» – «Der Vater ist für seine Kinder immer ein Vorbild, ein Spurenleger – so wie es mein Vater als passionierter Motorflieger für mich und meinen Einstieg in die Fliegerei war», erklärt der diplomierte Psychologe. Das Kind hat ein Bild des Vaters in sich, die Beziehung lebt dann von der Qualität, nicht von der Quantität.
Genuss statt Rekord
So wie der Schweizer Psychiater, Wissenschaftler und Abenteurer Bertrand Piccard seine Biografie betitelte, geht es auch Matthias Küffer darum, «Spuren am Himmel» zu hinterlassen. Das Rekorddenken hat dem Wunsch nach Abenteuer, nach Emotionen, nach Zufriedenheit und nach der Erweiterung persönlicher Flugerfahrungen Platz gemacht – und dem Streben nach Genuss.
Und dieser stand auch im Mittelpunkt seines letzten Projektes, welches ihn Ende April nach Grindelwald und zur Eigernordwand führte. Geplant war wiederum, angehängt an einem Heissluftballon auf 4‘500 Meter zu steigen, sich dort auszuklinken und der Eigernordwand entlang zu fliegen. «Die Eigernordwand fasziniert mich schon seit längerer Zeit und hat mit der Kombination von Wand, Schatten und Kälte eine Art Symbolcharakter für mich», erklärt der Extrempilot seine Wahl.
Dazu kommen die für ein solches Projekt unterstützenden Bedingungen mit sinkender Luft bei tiefen Temperaturen und keinem oder höchstens mässigem Wind. Und die Reduktion des Risikos auf den Moment des Ausklinkens verlieh dem Projekt endgültig den Status Genussprojekt.
Erfüllung eines Traums
Am 25. April 2013 war es dann nach fünf Monaten Vorbereitung und Training soweit: Kurz nach sieben Uhr morgens hoben die beiden Heissluftballone vom Parkplatz der Männlichenbahn in Grindelwald ab und stiegen gemeinsam und durch ein Seilmiteinander verbunden in 40 Minuten auf gut 4‘000 Meter. Während der eine Ballon auf dieser Höhe stehen blieb, zog der andere den Deltasegler mit Matthias Küffer noch weitere 200 Meter hinauf. Mit dem Einleiten eines Sinkfluges mit rund 15 Stundenkilometer versuchte der Ballon das Risikomoment des Ausklinkens und des anschliessenden Sturzfluges nochmals etwas zu reduzieren.
Für den Deltapiloten ging es dann nach dem Ausklinken darum, seinen Segler möglichst schnell aus der Horizontalen über die Querachse in die Vertikal abzukippen, eine Fluggeschwindigkeit von über 90 Stundenkilometer aufzunehmen und den Segler aufzufangen, um den Auftrieb für den anschliessenden Flug nutzen zu können. Eine eindrückliche und spektakuläre Phase des Projektes, welche das zwölfköpfige Begleitteam in beiden Ballonen und vom Boden aus beobachten konnte.
Während der Wind die beiden Ballone vom Eiger weg Richtung Haslital trieb, steuerte Matthias Küffer die Eigernordwand an. Etwa auf Höhe des Hinterstoisser-Querganges, benannt nach dem 1936 am Eiger tödlich verunglückten deutschen Bergsteiger, erreichte er die Wand, wo er, wie er es nachträglich schilderte, «eine unglaublich schöne und unvergessliche Ruhe» genoss. Dank Windstille und fehlenden Turbulenzen liess sich der Segler leicht steuern, und Matthias Küffer konnte mehrmals und mit wenigen Metern Abstand der beeindruckenden, 1‘800 Meter hohen Wand entlang fliegen.
Nach einem halbstündigen Flug landete er den Segler auf dem vorgesehenen Landeplatz in Grindelwald, wo der Pilot von einer einheimischen Bäuerin und einem Gleitschirmpiloten herzlich begrüsst wurde.
Die Nachhaltigkeit des Moments
Die Anerkennung, die Matthias Küffer für solche sportliche Leistungen erhält, ist für ihn zweitrangig. Auch wenn der Eigernordwandflug auf Onlinemedien eine beachtliche Resonanz und auch kontroverse Kommentare ausgelöst hat und das Video des Fluges auf Youtube nach zwei Tagen bereits zu den beliebtesten Clips avancierte, stehen für den Extremflieger andere Werte im Vordergrund: «Noch eindrücklicher als der Kick während des Fluges ist für mich die nachhaltige Energie, die daraus gewinne.»
Der Mensch braucht Ziele und Visionen, davon ist Matthias Küffer überzeugt. Und schon dies alleine gibt solchen Projekten auch den Sinn, nachdem immer wieder gefragt wird und den selbst der Extrempilot in Frage stellt. «Ich bin mir bewusst, dass ich den Luxus geniesse, solche Projekte realisieren zu können. Und dass das Ausleben meiner Leidenschaft und das Flowerlebnis nur für mich persönlich sind und damit auch nur für mich Sinn macht», reflektiert Matthias Küffer.
Doch diese Freiheit sollten sich auch Väter nehmen dürfen – auch wenn nicht wie bei Matthias Küffer ein Segler Teil seiner selbst und der Himmel zum Wohnzimmer wird.