In der Schwangerschaft ist vieles neu und aufregend. Wenn jedoch plötzlich Geräusche dumpfer als sonst erklingen oder sogar ein ständiges Ohrgeräusch auftritt, könnte es sich um Otosklerose handeln.
Eine dumpfe Ahnung
Die Forschung ist sich noch nicht ganz sicher, was Otosklerose (schleichender Hörverlust) auslöst. Die Zahl der Betroffenen deutet jedoch darauf hin, dass hormonelle Veränderungen nebst einer genetischen Komponente eine grosse Rolle spielen. Betroffen sind mehr Frauen als Männer, und oft beginnt die Krankheit während der Schwangerschaft.
Werdende Mütter hören plötzlich alles dumpfer und müssen immer öfters nachfragen. Vera Rasser, Hörgeräteakustik-Meisterin, beschäftigt sich seit mehr als 13 Jahren mit dem Thema: «Ich bin vielen jungen Müttern begegnet, die einen auffälligen Hörverlust aufwiesen.» Der schleichende Hörverlust zeichnet sich dadurch aus, dass vor allem leise Klänge kaum mehr wahrnehmbar sind. Das Hörvermögen ist bei lärmender Umgebung grundsätzlich besser als in Stille. Zusätzlich kann ein dauerndes Ohrgeräusch (Tinnitus) auftreten. Dieses Rauschen oder Piepsen im Ohr tritt Tag und Nacht auf und kann das Einschlafen stark erschweren. Auch Schwindel kommt häufig vor, «da das Gleichgewichtsorgan sehr nah beim Gehörgang liegt», sagt Vera Rasser.
So passierts
Der Ort des Geschehens ist das Mittelohr. Dort befindet sich die Gehörknöchelchenkette, die eintreffende Schallwellen vom Trommelfell bis zu einem ovalen Fenster im Innenohr transportiert. Die Kette besteht aus drei winzigen Knochen: Hammer, Amboss und Steigbügel. Die Steigbügelfussplatte befindet sich am Ende dieser Kette und ist an der Membran des Fensters platziert. Sie leitet die Schallinformationen in das mit Flüssigkeit gefüllte Innenohr weiter. Otosklerose ist eine Art Verknöcherung des Innenohrs, es bildet sich plötzlich und willkürlich neuer Knochen. So erklärt sich auch der Name, der aus dem Griechischen kommt: «Oto» steht für Ohr, «Sklerose» für Verhärtung. Das Mittelohr erfährt dabei einen ungewollten Umbauprozess, einzelne Strukturen verhärten mit der Zeit. Das unkontrollierte Knochenwachstum findet rund um das ovale Fenster und die Steigbügelfussplatte statt. Nach und nach versteift der Steigbügel, die Gehörknöchelchenkette schwingt schlechter, die leiseren Schallinformationen werden nicht mehr ins Innenohr abgegeben. «Bei lauten Pegeln funktioniert die Schallweiterleitung noch gut, leise Töne allerdings gehen immer mehr unter.» Manchmal erfahren auch Strukturen des Innenohrs oder das Gleichgewichtsorgan Veränderungen. Dann kann es sein, dass störende Ohrgeräusche auftreten (Tinnitus) oder der Gleichgewichtssinn nicht mehr richtig funktioniert. «Wenn die Verknöcherung im Ohr einmal begonnen hat, ist sie in der Regel nicht mehr aufzuhalten», sagt Vera Rasser.
Hilfe für Betroffene
Die Akustik-Expertin kennt die Leiden der Betroffenen und berät sie in allen Fragen rund ums Hören. Ziel ist, die Symptome möglichst zu lindern und mit einer angepassten Hörhilfe so viel Hörvermögen wie möglich zurückzugeben. «Es kommt auch immer wieder vor, dass eine Apotheke oder Drogerie Kundinnen zu mir schickt», sagt Vera Rasser. Manchmal sind spezifische Abklärungen nötig und die gängigen Hörgeräte reichen nicht, um dem Hörverlust abzuhelfen. Umgekehrt schickt auch die Hörgeräteakustik-Meisterin ab und zu Betroffene weiter, wenn sie einen einfachen Hörverstärker vorziehen und keine individuelle Hörhilfe wünschen.
Gut zu wissen für Drogistinnen und Drogisten: «Kundinnen und Kunden, die über plötzlich auftretende Ohrgeräusche klagen, sollten unbedingt einen Arzt aufsuchen.» Die Diagnose einer Otosklerose ist allerdings gar nicht so einfach, besonders im Anfangsstadium. Trommelfell und Mittelohr bleiben zunächst unverändert. Für die Diagnose kommen in der Regel ein Hörtest und eine Hörprüfung mittels Stimmgabel zum Einsatz. So erkennt der Arzt die Stärke des Hörverlustes. Bei einer Otosklerose stellt er eine sogenannte Schallleitungsschwerhörigkeit fest. Das heisst, dass jemand einen Ton schlechter hört, wenn er auf normalem Weg via Gehörgang – Trommelfell – Mittelohr – Innenohr eintrifft als wenn er mittels Vibrationen der Schädelknochen direkt auf das Innenohr übertragen wird. Wenn jemand von einer leicht verminderten Hörfähigkeit erzählt, kann statt des Arztes zunächst auch ein Akustiker aufgesucht werden.
Operation bei Otosklerose
Leiden Betroffene unter den Hörhilfen und ist das Innenohr nicht oder kaum betroffen, kann eine mikrochirurgische Operation das Richtige sein. Der Steigbügel wird dabei teilweise entfernt, mit einem Loch in der Fussplatte sowie einer stempelförmigen Prothese versehen und dann mit einer kleinen Öse am Amboss befestigt. So wird die Gehörknöchelchenkette wieder beweglich. Die Operation ermöglicht es, wieder Schall zum Innenohr zu übertragen. Ein solcher Eingriff dauert rund 30 Minuten und erfolgt unter lokaler Betäubung. Der Arzt kann dank der Lokalanästhesie bereits während der Operation testen, wie sich die Hörfähigkeit verbessert. Ist auch das Innenohr betroffen, dann ist eine solche Operation jedoch sinnlos – und ein Hörgerät die einzige Lösung. Ob und wann eine Operation bei Otosklerose angebracht ist, ist keine einfache Entscheidung. Einerseits ist die Erfolgsrate grösser, je früher sie stattfindet. Andererseits ist der Leidensdruck im frühen Stadium noch nicht so gross, die Risiken einer Operation wiegen demgegenüber schwerer. Die Erfahrung zeigt, dass bei über 90 Prozent der Menschen mit Otosklerose eine Operation die Schwerhörigkeit stark mildert oder gar ganz beseitigt. In seltenen Fällen verschlechtert sich das Gehör oder die frisch Operierten leiden während ein paar Tagen unter Schwindel. Einer Otosklerose vorzubeugen, ist nicht möglich. Vera Rasser rät darum allen Müttern, nach der Geburt einen Hörtest durchzuführen, und zwar jährlich, um ein allfälliges Auftauchen respektive Fortschreiten der Krankheit frühzeitig zu erkennen.
Rauschen im Ohr
Nicht immer handelt es sich bei Hörproblemen gleich um eine Otosklerose. Gerade in der Schwangerschaft kann es vorkommen, dass Frauen ein Rauschen im Ohr erleben. Dieses zeigt sich pulssynchron, gleichzeitig mit dem Herzschlag. Ursachen können sein: ein sich ankündigender Hörsturz (siehe Zusatztext), Bluthochdruck, Tinnitus, Flüssigkeitsmangel, Verstopfungen durch Ohrenschmalz oder eine entstehende Infektionskrankheit des Mittelohrs. Unter Bluthockdruck leiden viele Schwangere, ein dadurch ausgelöstes Ohrenrauschen betrifft rund zehn Prozent. Wer bereits vor der Schwangerschaft unter Bluthochdruck litt, tut dies sehr wahrscheinlich auch während der Schwangerschaft. Da sich schwerwiegende Erkrankungen wie eine Präeklampsie (Krampfanfall in der Schwangerschaft, der Mutter und Kind gefährdet) durch diese Symptome ankündigen können, sollten die Betroffenen in jedem Fall ihre Gynäkologin oder ihren Gynäkologen aufsuchen.
HÖRSTURZ IN DER SCHWANGERSCHAFT
Bei einem Hörsturz verliert jemand die Hörfunktion auf einem oder beiden Ohren, ohne erkennbare Ursache. Oft kündigt sich dies durch ein Rauschen im Ohr an. Innerhalb von Sekunden oder Minuten vermindert sich die Hörfähigkeit massiv. Über die Ursachen gibt es nur Vermutungen: Sauerstoffmangel oder Stoffwechselstörungen im Innenohr oder Durchblutungsstörungen in engen Blutgefässen. Auch Stress kommt als möglicher auslösender Faktor infrage. Eine Schwangerschaft bedeutet grosse körperliche und psychische Veränderungen, was eine grosse Belastung für die Frau sein und einen Hörsturz begünstigen kann. Allerdings sind während einer Schwangerschaft die Behandlungsmöglichkeiten etwas eingeschränkt, denn Medikamente sind selten empfehlenswert. In vielen Fällen heilt ein Hörsturz allerdings von alleine. Schwangere können zudem vorbeugen, indem sie ausreichend trinken, insbesondere dann, wenn sie ein Rauschen im Ohr wahrnehmen. Sobald ein Hörsturz aufgetreten ist, gibt es aber nur eines, und zwar den Gang zum HNO-Arzt.
Zur Person:
Vera Rasser ist Hörgeräteakustik-Meisterin und unterstützt immer wieder Schwangere, die plötzlich unter dem schleichenden Hörverlust der Otosklerose leiden.