Die meisten Eltern erleben es, die wenigsten sprechen darüber: Mit der Geburt eines Kindes verändern sich auch die Partnerschaft und die Sexualität. Oft herrscht über Monate Flaute im Bett.
Eltern im Sexfrust
Schmusen, herzen, kuscheln. Mit ihrem Neugeborenen gehen Eltern in der Regel liebevoll und zärtlich um. Oft leidet mit dem Dritten im Bunde allerdings die Partnerschaft. Es kann sein, dass eine Frau nach dem Wochenbett mehr Lust entwickelt als je zuvor. Doch häufig ist es anders: Er drängt ins Bett, sie weicht aus. Oder beide reiben sich am Alltag mit Baby so auf, dass ihnen die Kraft fehlt, sich auch noch dem Partner oder der Partnerin zuzuwenden. Die wenigsten Paare finden nach dem Wochenbett sofort wieder zu einer erfüllten Sexualität zurück, wie Erhebungen aus dem angelsächsischen Raum zeigen. Auf ihren Inhalt bezieht sich Johannes Bitzer, Leiter der gynäkologischen Sozialmedizin und Psychosomatik am Universitätsspital Basel: Lediglich 14 Prozent der Frauen und 12 Prozent der Männer berichten, dass nach der Geburt eines Kindes keine sexuelle Schwierigkeiten aufgetreten seien. 40 Prozent der Mütter erleben den ersten Verkehr nach der Entbindung als problematisch, fast 70 Prozent der Betroffenen enthielt sich daraufhin für längere Zeit. Auch Sozialarbeiterin Beatrice Truniger Blaser sowie Sexualpädagogin Prisca Walliser von der Beratungsstelle für Familienplanung, Schwangerschaft und Sexualität in St. Gallen wissen von den Schwierigkeiten junger Eltern, ihre Sexualität zu leben. „Viele sind froh, wenn wir es ansprechen. Es ist bis heute ein Tabuthema“, stellt Stellenleiterin Beatrice Truniger Blaser fest. Paare sollten sich schon im Vorfeld über mögliche Probleme im Klaren sein und Tipps zur Lösung bekommen, sagen die Expertinnen von der Beratungsstelle sowie Johannes Bitzer. Alle drei bedauern, dass solche Fragen in der Geburtsvorbereitung häufig keine Rolle spielten.
Wunden verheilen
In den ersten Wochen nach der Geburt ist eine Auszeit völlig normal, von der Natur quasi vorgegeben. Körper und Seele brauchen Zeit, sich von den Strapazen der Geburt zu erholen. Sechs bis acht Wochen dauert es, bis der Organismus der Frau wieder vollständig auf nichtschwanger umgestellt ist. Die sogenannte Wochenbettzeit geht einher mit dem Wochenfluss, dem Ausscheiden von Blut und Wundsekret. Die Gebärmutter schrumpft auf Normalgrösse, durch die Geburt entstandene Wunden verheilen, die Schwangerschaftshormone gehen zurück. Die Milchbildung fördernde Hormone werden verstärkt produziert. Die Vagina einer Stillenden kann in dieser Phase sehr trocken sein, selbst wenn sie erregt ist. Oft liessen sich sexuelle Problemen schon vermeiden, wenn Paare über Details der biologischen Veränderungen gut aufgeklärt wären, informieren die Frauen von der St. Galler Beratungsstelle.
Doch nicht nur der Körper der Frau verändert sich mit dem ersten Kind, sondern der gesamte Alltag des Paars. Die Schlaf- und Wachphasen des Babys bestimmen in den ersten Monaten den Lebensrhythmus. Mann und Frau müssen sich an ihre neue Rolle als Eltern gewöhnen. Sie stehen vor der Herausforderung, den Wohnraum und die häuslichen Aufgaben neu aufzuteilen sowie zwischen Windeln, Babyfläschchen und anderen Alltagspflichten auch noch Zeit für sich selbst zu finden. „Sexualität muss plötzlich organisiert werden – das ist für viele völlig neu. Sie dachten bisher, es muss doch spontan sein“, stellt Truniger Blaser fest. Bis sich unter den neuen Voraussetzungen wieder Lust und Leidenschaft entwickeln, kann Zeit vergehen. „Ich sage immer, das kann wie nochmals eine Schwangerschaft sein“, kommentiert Kollegin Walliser. „Die Gründe für Lustlosigkeit sind vielfältig“, stellt Johannes Bitzer fest. Sie hängen zusammen mit den Erfahrungen in der Schwangerschaft und bei der Geburt, dem Rollenverständnis des Paars, dem Körpergefühl, der Kommunikation und den sexuellen Einstellungen des Paars auch schon vor der Geburt. Geburtserfahrungen können lange nachwirken und bei der Mutter Ängste vor neuen Schmerzen hervorrufen, vor allem wenn es bei der Entbindung zu Verletzungen kam, etwa durch einen Dammriss. Manche Frauen nehmen sich nach der Geburt als unattraktiv wahr. Sie müssen sich erst mit den neuen, mütterlichen Körperformen anfreunden. Manchmal braucht es Zeit, bis eine Frau ihre Rolle als Mutter ausfüllen und sich dennoch wieder als „sexy“ erleben kann. Aber auch Überlastung durch die Kinderbetreuung, Schlafmangel oder überzogene Anspruchshaltungen an sich selbst können die Lust dämpfen. Gibt es wenig Unterstützung vom Mann und dem familiären Umfeld, kann dies die Partnerschaft zusätzlich belasten. Das Bedürfnis der Mutter nach Körperkontakt kann aber auch durch die Babypflege mehr als erfüllt sein, ganz anders als beim Mann.
Eltern brauchen Auszeiten
„Man sollte sich trauen, darüber zu reden, welche Bedürfnisse da sind“, rät Truniger Blaser. Für Eltern sei es wichtig, schon in den ersten Wochen nach der Geburt Freiräume für sich und ihre Partnerschaft zu schaffen. „Eltern dürfen nicht nur Arbeitstiere sein. Sie brauchen Auszeiten“, stellt auch der bekannte Paartherapeut Hans Jellouschek fest. Er schlägt vor, Zeiten festzulegen, in denen das Paar ungestört für sich sein kann, und in den Terminkalender einzutragen. Für die Eltern sei es wichtig, dass sie sich von Zeit zu Zeit von den Kindern und dem Beruf abgrenzen können. Es schade auch kleinen Kindern nicht, wenn sie stundenweise in die Obhut anderer betreuender Personen gegeben werden. Ab einem Jahr sei ein Kind durchaus in der Lage, auch von anderen netten Menschen zu profitieren. An einer Spielgruppe mit Gleichaltrigen fänden Kleinkinder in der Regel gefallen. „Kinder brauchen Bezugspersonen, aber nicht rund um die Uhr.“ Um Lust raubenden Druck und Stress im Alltag abzubauen, rät der Paartherapeut zu gelegentlicher Improvisation statt Perfektion. Und vor allem sollten sich Eltern vor Augen halten, wie stark ihr Alltag durch äussere Erwartungen und innere Rollenbilder vom „richtigen“ Mann als Held der Arbeit und von der „richtigen“ Frau als Hüterin des Herdes geprägt sind. Sie kollidierten mit dem heute favorisierten Beziehungsideal, nach dem sich Mann und Frau in Beruf sowie Familie engagieren. Dazu kommen Anforderungen in der Arbeitswelt, welche die Teilung der Erziehungsarbeit zusätzlich erschweren. Oft streiten junge Eltern deswegen. „Das Paar sollte sich das Problem nicht gegenseitig in die Schuhe schieben“, sagt Jellouschek. Besser sei es, immer wieder neu auszuhandeln, welches Familienmodell das Paar leben kann und will. Wie lange soll die Frau beruflich zurück stecken? Wann und in welcher Form ist ein Wiedereinstieg sinnvoll und machbar? Wie kann der Mann unterstützend beistehen? Welche Erwartungen haben die Partner an sich, und wie viel ist davon durch klassische Rollenbilder geprägt? Jellouschek regt an, gegenseitig anzuerkennen, was die Partner leisten, und auf dieser Basis weiter zu diskutieren.
Wenn es dem Paar gelingt, Freiräume für sich zu schaffen, etwa indem es mit anderen jungen Elternpaaren gegenseitige Kinderbetreuung vereinbart, dann kann es dennoch dauern, bis wieder Lust aufkommt. „Man sollte sich lösen vom Druck, sexuell funktionieren zu müssen“, stellt Sexualpädagogin Walliser fest. Phasen der Lustlosigkeit gehören zu einem normalen Leben. Bei der Wiederannäherung nach der Geburt können Zärtlichkeitsbeweise und Sinnlichkeit erst einmal im Vordergrund stehen, also Streicheln, Massagen, Petting. Kurz nach der Geburt kann schon eine Stunde hilfreich sein, die das Paar nur für sich allein geniesst, vielleicht bei einem gemeinsamen Spaziergang – Hand in Hand – oder beim gemeinsamen Anhören der Lieblingsmusik oder bei einem intensiven Gespräch. „Es ist eine neue Annäherung. Es gibt wieder das erste Mal,“ beschreibt Walliser den Prozess. Bis alles wieder „im Lot ist“, könne gut ein Jahr vergehen.
Die in Konstanz und in der Schweiz arbeitende Sexologin Maria Müller sieht in der Sprache eine Möglichkeit, sich dem Sex wieder zu nähern. Die Partner könnten beispielsweise mit Begriffen spielen, von „Scharmlippen“ sprechen oder ganz neue poetische Worte für erogene Zonen und Sex erfinden. „In Indien sagt man zum Beispiel ‚den Lotus tränken‘.“ Sie rät dazu, dem Mann nach der Geburt neu zu zeigen, welche Berührungen für die Frau angenehm und welche eher nicht so angenehm sind. Die Brüste können etwa bei einer Stillenden sehr empfindlich sein. Schliesslich gebe es neben vielen anderen gemeinsamen, sinnlichen Erlebnissen eine nicht auf den Orgasmus zielende Form der Sexualität, bei der die durch die Geburt strapazierten Organe kaum belastet werden, sagt Maria Müller. Sie spricht von einer „erweiterten Umarmung“, bei der der Mann den weichen oder halb erigierten Penis in die Vagina der Frau einführt. Das Paar liegt danach nur zusammen und spürt sich gegenseitig. Dabei können „kleine orgastische Schauer“ auftreten – nicht mehr und nicht weniger. Für diese sanfte Form des Sex „braucht es Bereitschaft, aber keine Lust“, stellt die Sexologin fest. Sie könne für beide Seiten sehr befriedigend sein. Verhütung ist in jedem Fall angeraten. In der Stillzeit ist die Frau nicht verlässlich vor einer erneuten Empfängnis geschützt. Es bieten sich aber auch ohne Verkehr viele Spielarten der Sinnlichkeit und Sexualität an. Wenn sich dennoch keine zufriedenstellenden Lösungen finden lassen, kann es ratsam sein, professionelle Hilfe zu suchen, etwa bei kantonalen Stellen. Jeder Kanton in der Schweiz ist gesetzlich verpflichtet, eine Schwangerschaftsberatung anzubieten. Mancherorts wird auch eine Sexualberatung angeboten.