Gefühle werden auch heute noch in der Gesellschaft, in der Schule und in der Familie als konstruktives Mittel unterschätzt oder verkannt. Immer mehr stellt sich heraus, dass nicht der IQ das Mittel aller Mittel zum Erfolg ist, sondern die Kompetenz der Empathie, die Einsicht, dass «Gefühlsduselei» nicht falsch sein muss.
Emotionale Intelligenz Wenn das Gefühl der nackten Logik die Stirn bietet
Nennen wir ihn Michael, aufgewachsen im Schweizer Mittelland in den 1970er-Jahren. Er hatte seine grosse Mühe mit der Schule. Konzentrationsschwäche und Desinteresse an Fächern wie Mathematik und Algebra, Handwerk aber liebte er, ebenso schrieb er gerne Aufsätze, wollte mehr aus der Weltgeschichte erfahren, ging raus in die Natur und spielte Fussball fürs Leben gerne. Michael war engagiert in der kirchlichen Jugendgruppe, gesellig und stand gerne als Kabarettist im Schultheater auf der Bühne. Lehrpersonen und seine Mitschülerinnen und Mitschüler mochten ihn, doch so lange er nur miserable Noten aus dem Rechnen und beim «Fleiss» nach Hause brachte, machte man sich Sorgen um seine berufliche Zukunft.
Dann kam 1997 ein Bestseller auf den Markt, der nicht nur für immense Umsätze im Buchhandel sorgte, sondern pädagogische Weltbilder auf den Kopf stellte. Titel: «Emotionale Intelligenz». In diesem Buch stellte der aus Kalifornien stammende Psychologe, Daniel Goleman, die provokative Frage: «Was nützt ein hoher IQ, wenn man ein emotionaler Trottel ist?» Also mehr EQ statt IQ?
Nur, was ist eigentlich damit gemeint und was nützt das dem Schul- und Bildungsbetrieb?
Nebst der Fähigkeit, hochkomplexe Berechnungen, abstrakte Analysen und verschiedene Sachverhalte logisch miteinander verknüpfen zu können, sind auch diese Fertigkeiten gefragt:
- Empathie
- Soziale Kompetenz
- Emotionale Selbstwahrnehmung
- Emotionale Eigenverantwortung oder Selbstregulierung
- Ganzheitliches Verstehen und Handeln.
Wenn der IQ nicht mehr ausreicht
«Meine Tochter hatte auf der Mittelstufe einen Lehrer, der jedes Kind wertschätzte, unabhängig seiner Schulintelligenz», sagt der in Zürich lebende Pädagoge und Philosoph, Martin Kunz, und fügt hinzu: «Viele Ehemalige besuchten ihn später, weil sie sich an sein hervorragendes Einfühlungsvermögen mit guten Gefühlen erinnerten.» Dieser Lehrer ermöglichte allen Schülerinnen und Schülern ein Lernumfeld mit Nachhaltigkeit. Doch, so Kunz, gab es Eltern, die ihn auch kritisierten. Gemäss Studien des aus Giessen in Deutschland stammenden Psychologen Robert Rosenthal seien empathische Menschen emotional ausgeglichen, kontaktfreudig, beliebt und kompetent im Umgang. Grund? Weil sie andere Menschen verstehen und vielleicht nicht wissen, dass bei den mathematischen Quadratwurzeln der Wurzelexponenten weggelassen werden kann.
«Firmen fokussieren zu stark auf den IQ», meint der Chef der Beratungsfirma McKinsey, Dominic Barton, im Interview mit der «NZZ am Sonntag» und führt aus: «Natürlich brauchen wir diesen für unseren Analysten. Aber emotionale Intelligenz ist wichtiger.» Er erzählte, wie sein Mentor damals sagte, dass die Kunden gleich intelligent seien und oft viel mehr Erfahrung hätten. «Um zu verstehen, wie eine Organisation wirklich funktioniert, reicht IQ nicht aus», sagt Barton.
Ganz ähnlich äusserte sich die Psychotherapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Innere Medizin an der Universität UKE Hamburg, Miriam Depping, in einem Referat an der Universität Zürich: «Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu verstehen und deren Ursachen zu erkennen, hilft, unverfälschtere Entscheidungen zu treffen. (…) Das Wissen über die Ursachen der eigenen Emotionen – ob selbst erkannt oder durch Hinweis von anderen – schützt also davor, sich bei eigenen Entscheidungen nicht von Emotionen, die nichts mit der Entscheidung zu tun haben, beeinflussen zu lassen.» Was geschieht, wenn ein hochintelligenter und cleverer Mensch dazu nicht in der Lage ist?
Hilft das Gefühl beim Lernen?
Zur Wahrnehmung der Gefühle anderer gesellt sich die Fähigkeit, mit diesen umgehen zu können, im Interesse der Familie, der Schule, des Vereins und Unternehmens oder kurz: der Gesellschaft. Martin Kunz erklärt: «Wir wissen, dass der Erfolg im Leben nur zum Teil von der messbaren Intelligenz abhängt. Ob Manager oder Verkäufer, Lehrerin oder Politiker, emotionale Intelligenz befähigt sie zu guter Arbeit. Jedes Stelleninserat spielt darauf an.» Teams leiten, Lösungen aushandeln, Konflikte verhindern, Kompromisse im Sinne des Projekts finden, sind nicht die Kompetenzen der lärmigen Führungspersonen mit Geltungsdrang.
Michael, der Bub aus dem Mittelland in den 1970er-Jahren, konnte sich begeistern für Inhalte, die einleuchtend und für ihn nachvollziehbar waren, denn er suchte hinter Aufgaben und Schulstoffe stets einen Sinn.
Das Schweizer Wissenschaftsmagazin higgs.ch stellt in einem Beitrag die Frage: «Helfen Gefühle in der Schule?» Das Magazin berichtet von 158 Studien zwischen 1998 und 2019 mit 42`000 Studentinnen und Studenten aus 27 Ländern und zieht folgende Bilanz:
Der EQ fördert das Lernen und Verstehen. Emotional intelligente Menschen gehen mit negativen Gefühlen wie Ängste, Sorgen, Langeweile und Enttäuschung besser um. Der EQ fördert die Beziehung zu Lehrpersonen und Mitschülern. Aber, die Autorinnen und Autoren der Studie halten fest, dass EQ nicht «zwangsweise der Grund für bessere akademische Leistung sein muss», betonen jedoch, dass die Förderung der emotionalen Intelligenz sehr wichtig sei.
Michael wurde damals in den 1970er-Jahren oft nicht mit seinem Temperament verstanden, noch erhielt er Lob und Anerkennung für gute Leistungen, die nicht in das Schema der damaligen Schulforderung passten.
Sich öffnen für echte Beziehungen
Wie sollen sich heute die Eltern im Umgang mit den unterschiedlichen Qualitäten der Kinder zwischen IQ und EQ verhalten? Martin Kunz sagt: «Viele Eltern scheinen heute besorgt zu sein, dass ihre Kinder beruflich und auch im Leben nicht arrivieren, wenn sie nicht hervorragende Schulleistungen erbringen. Das führt dazu, dass Kinder überpädagogisiert werden. Das altmodische Wort ‹Bildung› müsste neu gedacht werden. Wenn wir das täten, würden wir feststellen, dass zum Beispiel das freie Spiel der Kinder für die Persönlichkeitsentwicklung, auch die mentale, viel mehr bringt als überorganisiert Förderung rein intellektueller Kompetenzen. Sie müssen sich öffnen können für neue Erfahrungen und echte Beziehungen.»
Nun, unser Michael aus dem Mittelland, las damals das Buch von Daniel Goleman und verstand dann sehr gut, was falsch lief. Heute lebt er mit Familie immer noch im Mittelland als sehr zufriedener Unternehmer, aber Mathematik hasst er noch immer.
Linktipps:
Institution für Angewandte Psychologie, Zürich. Weiterbildungskurs «Emotionale Intelligenz»
Universität Zürich, Psychologisches Institut
Stimmungsfiguren für 42 Emotionen. Pro Juventute
Was ist emotionale Intelligenz? Der Beobachter
Buchtipps:
- «EQ. Emotionale Intelligenz», Daniel Goleman, Neuauflage 2018, DTV, ISBN 978-3-423-36020-3, CHF 15.50. Gibt es auch als Hörbuch im Hörbuchverlag, ISBN 978-3-89584-896-4. CHF 21.90
- «Emotionale Intelligenz bei Kindern fördern», Irina Bosley und Erich Kasten, 2020, Springer Verlag, ISBN 978-3-658-28560-9, CHF 33.50
- «Emotionale Führung», Daniel Golemann, 2003, Ullstein, ISBN 978-3-548-36466-7, CHF 16.50
- «Emotionstraining in der Schule – Ein Programm zur Förderung der emotionalen Kompetenz», Franz Petermann, Ulrike Petermann, Dennis Nitkowski, Hogrefe, ISBN 978-3-8017-2687-4, CHF 60.90
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