Zwischen Kindern, Schule, Arbeit und Familienalltag kommen die eigenen Bedürfnisse oftmals zu kurz. Deshalb steigen die Nachfragen nach Ferien ohne Kinder an. Was aber oftmals mitreist, ist das schlechte Gewissen. Weshalb solche Tage abseits der Hektik für die ganze Familie einen Gewinn darstellen kann, verrät Kinder- und Familiencoach Andrea Hüppin im Interview.
Ferien ohne Kinder: Egoismus oder Entlastung?
In der Vergangenheit kommt verstärkt der Wunsch einiger Eltern an die Oberfläche, ohne ihre Kinder zu verreisen. Bemerken Sie diese Wahrnehmung bei Ihrer Arbeit als Kinder- und Familiencoach?
Ja und Nein (lacht). Ich beobachte beides. Ich sehe Eltern, die zu zweit verreisen oder auch Elternteile, die sich einzeln eine Auszeit nehmen und der Partner die Zeit mit den Kindern verbringt. Zweiteres ist natürlich eine der einfachsten Varianten.
Ein Wellnesswochenende mit einer Kollegin, ein Städtetrip mit Freunden – was bringen solche Auszeiten von den Kindern und dem Alltag für die Eltern?
Im Alltag – und auch Urlaub – mit den Kindern lebt man im «Rhythmus des Kindes». Wir gehen essen, wenn es «Zeit» wäre, schauen, dass wir zu «normalen» Zeiten zu Hause sind, damit die Kids schlafen können, und stehen auf der anderen Seite dann auf, wenn die Kinder wach sind. Je kleiner die Kinder, um so mehr zeigt sich dieses Verhalten. Wir sind verantwortlich für unsere kleinen Lieblingsmenschen, den ganzen Tag. Für viele Eltern ist es schon Erholung, wenn sie einfach in den Tag hineinleben können, sich um niemanden kümmern müssen und keine fremden Bedürfnisse erfüllen. Einfach dann essen zu gehen, wenn man wirklich Hunger hat und zwar da, wo man gerade Lust hat (lacht). Nicht zu vergessen ist die Zeit, in der man sich mal wieder als Paar erlebt, falls man mit dem Partner in die Ferien geht.
Und auf der anderen Seite: Kann die Zeit bei den Grosseltern, dem Gspändli oder dem Gotti auch Vorteile für das Kind haben?
Für die Kinder ist die Zeit ausserhalb der Familie eine Bereicherung, es vergrössert ihren Erfahrungsschatz. Wie läuft es in anderen Familien? Hier gibt es andere Abläufe, andere Regeln: Wie fühlt es sich an, auf «Besuch» zu sein, wie macht man sich bemerkbar, wenn man hungrig ist oder das Essen überhaupt nicht schmeckt, wie sieht das Abendritual aus?
Die Kinder erleben, dass es verschiedene Varianten gibt. Das einfachste Beispiel: Wie isst man Spaghetti? Zu hause werden sie immer geschnitten, ausser Haus lerne ich plötzlich die Variante des Drehens kennen.
Ab welchem Alter des Kindes darf man das überhaupt in Erwägung ziehen?
Dafür gibt es absolut keine Faustregel. Es gibt Familien, da übernachten die Kinder von klein auf regelmässig bei den Grosseltern oder Göttis. Diese Kinder sind das schon gewohnt und freuen sich drauf. In anderen Familien schlafen die Kinder bis zum ersten Klassenlager gar nicht ausser Haus. So, wie es auch bei uns Erwachsenen die «Heimschläfer» gibt, ist es auch bei den Kindern.
Und wenn sich ein Kind dagegen sträubt? Es also nirgendwo anders übernachten will?
Dann würde ich das voll akzeptieren. Solange keine Notwendigkeit besteht, rate ich davon ab. Schlafen hat sehr viel mit Vertrauen zu tun und das kann ich nicht erzwingen. Um ein bisschen reinfühlen zu können: Wie würde es Ihnen gehen, wenn ich sage, wir übernachten heute in der Fussgängerzone, im Einkaufszentrum oder auf dem Rasen des Fussballstadions? Wir könnten uns auch nicht einfach überall hinlegen und schlafen, wenn wir uns nicht sicher und wohl fühlen.
Viele haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie ohne ihre Kinder verreisen. Ist dies berechtigt? Und wie kann man sein schlechtes Gewissen beruhigen?
Das A und O ist, dass es in dieser Zeit allen gut geht. Wenn ich weiss, ich habe ein weinendes Kind zurückgelassen, dem es sehr schwerfällt, die Zeit ohne mich zu überstehen, dann wird sich mein Gewissen nicht beruhigen lassen – egal, mit welchen Sprüchen ich es versuche.
Wenn aber klar ist, dass auch die Kinder die Zeit geniessen und Spass haben, weil sie beispielsweise beim Grossi jeden Tag Brettspiele machen und mithelfen dürfen, ihr Lieblingsessen zu kochen, dann gibt es keinen Grund für ein schlechtes Gewissen.
Viele Eltern fühlen sich ausgelaugt, manchmal überfordert. Der Familienalltag kann stressig sein. Hat man darüber früher einfach geschwiegen oder sind die Anforderungen gestiegen?
Ui, die Antwort würde wahrscheinlich den Umfang dieses Interviews sprengen (lacht). Zusammengefasst: Heute haben wir definitiv die viel genannte Doppelbelastung. Selbst wenn sich Eltern die «Familienarbeit» aufteilen, heisst das oft, ich arbeite an die 100 Prozent PLUS Familie. Ausserdem fällt für viele die Unterstützung der Grosseltern, Göttis, Tanten o. ä. weg, weil sie einfach zu weit weg wohnen. Und zu guter Letzt haben wir das Gefühl, dass uns Elternsein doch im Blut liegen muss, dass uns das einfach von der Hand gehen muss, ganz automatisch. Dabei waren wir alle noch nie Eltern. Wir waren Kinder und hatten Eltern, aber die neue Perspektive kennen wir noch nicht. Es ist völlig legitim, wenn wir uns von aussen Hilfestellungen, Tipps und Wissen holen, damit unser Familienalltag entspannter für alle wird.
Welche Empfehlungen geben Sie Ihren Klienten, wenn es um Ferien ohne ihre Kinder geht?
Meine Empfehlung ist: Hören Sie auf Ihren Bauch. Nur Sie kennen Ihr Kind, nur Sie wissen, wie wohl es sich dort fühlt, wo es seine Ferien verbringen würde. Und Sie können am besten abschätzen, wie wohl sie sich selbst fühlen werden, wenn Sie ohne Kinder in den Ferien sind. Können Sie sich vorstellen, entspannt die Ruhe zu geniessen oder würden Sie wie auf heissen Kohlen sitzen und sich ständig Sorgen machen? Testen Sie doch zu Beginn mal einen freien Abend, dann eine Übernachtung und steigern Sie sich langsam, sodass Sie sich und Ihr Kind daran gewöhnen können. Oder: Laden Sie die Oma oder den Götti ein, bei sich zu Hause Ferien zu machen. So ist das Kind in seiner gewohnten Umgebung, kann in seinem Bett schlafen und die Hemmschwelle ist schon deutlich niedriger.