Artikel / Themen

Gibt es Chancengleichheit?

Corona zwang uns in den Fernunterricht. Diese Zeit hat die ganze Bildung stark gefordert und gezwungen, sich selbst zu überdenken. Ein wichtiger Aspekt in allen Überlegungen ist die Chancengleichheit. Aber gibt es die wirklich?

Bild: © Ulza/shutterstock.com

Seit Corona liest man viel über Chancengleichheit. Damit ist gemeint, dass alle Personen dieselben Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten erhalten, ohne dass die Herkunft oder Sonstiges eine Rolle spielt. Aus meiner Sicht besteht in der Schweiz bereits eine Chancengleichheit, da wir ein durchlässiges Bildungssystem haben. Die Grafik des Bundesamtes zeigt auf, dass es immer einen Weg gibt, um einen höheren Abschluss zu erlangen. Die Wege sind bestimmt nicht einfach zu meistern, doch sie bestehen. Also weshalb hat dieses Thema eine so grosse Bedeutung?

Wir alle sind gleich

Hinter dem Wunsch der Chancengleichheit versteckt sich aus meiner Sicht ein schönes Menschenbild, nämlich eines, dass alle als gleichwertig ansieht. Ich persönlich unterstütze dieses Vorhaben, obwohl mir bewusst ist, dass es kaum umgesetzt werden kann. Es ist und bleibt eine Idealvorstellung, gerade im Bereich der Bildung.

Die Familie als Schlüssel

«Bei der Frühen Förderung ist immer die Familie der erste und wichtigste Ort», meint Frau Monika Knill (Regierungsrätin des Kantons Thurgau, SVP). Ich denke, sie liegt damit richtig. Die Familie legt den Grundstein für das Leben des Kindes. Jede Familie hat diesbezüglich eigene Werte und Möglichkeiten. Hier eine Gleichheit herzustellen ist aus meiner Sicht utopisch und auch nicht erstrebenswert. Die Vielfalt ist ja gerade das, was unsere Gesellschaft ausmacht. Es ist aber möglich, Unterstützung im Bereich der Ausbildung anzubieten, damit eine Form der Chancengleichheit erlangt werden kann. Herr Nick Gugger (Nationalrat EVP) trifft es auf den Punkt, indem er sagt: «Frühe Förderung beginnt bei den Erwachsenen – man muss es wollen, man muss es können und wie immer: Taten zählen mehr als Worte.»
In meiner beruflichen Laufbahn hatte ich bisher mehrheitlich mit Eltern zu tun, die für ihr Kind das Beste wollten. Diese Eltern haben die Förderung im Elternhaus nach den eigenen Möglichkeiten und Werten gestaltet. Genau hier besteht auch die grösste Ungleichheit in Bezug auf die Bildung, und Faktoren wie Einkommen, Wohnort, Kultur, Bildungsniveau der Eltern und Migration spielen doch wieder eine grössere Rolle, als es uns lieb ist. Egal in welchem Bereich, Möglichkeiten werden genutzt, wenn man diese hat. Das gilt besonders für Bildung, welche einem den Weg in die Zukunft ebnet. Egal ob fair oder nicht, wer die Möglichkeit hat, wird seinen Kindern immer die beste Unterstützung bieten. Der Staat kann diesbezüglich wenig ausgleichen, es ist aber lobenswert, dass es versucht wird.

Gymnasium = Erfolg?

Aus meiner eigenen Erfahrung würde ich die Formel Gymnasium = Erfolg klar verneinen und genau deshalb verstehe ich die Argumentationen einiger Fachleute und Journalisten nicht, wenn sie beim Thema Chancengleichheit jedes Mal die Quote der Gymnasien nehmen. Immer wieder, wenn es einen Artikel zum Thema Chancengleichheit gibt, wird aufgezählt, dass eine Ungleichheit besteht, da es nur wenige Migrantenkinder und Kinder aus bildungsfernen Familien ans Gymnasium schaffen, obwohl diese nachweislich nicht weniger intelligent sind. Nachhilfen werden als Doping beschrieben und die Schule als unfähig, diesen Missstand zu beheben. Persönlich ärgern mich diese Statements, da sie den Wert vermitteln, dass diese Kinder ihrer Chance beraubt wurden. Klar kann man die Angebote ausbauen (Frühförderung, Sprachkurse …), damit aber alle davon profitieren würden, müsste es ein Obligatorium geben. Wollen wir das wirklich? Ohne Obligatorium wird weiterhin jede Familie ihr Bestes geben und das finde ich auch gut so. Es soll im Ermessen der Familie bleiben, welche Schwerpunkte sie setzt. Zudem stört es mich, dass das Gymnasium über die anderen Bildungswege und besonders über die Berufslehre gestellt wird. Die Entscheidung, ob ein Kind ans Gymnasium geht oder nicht, fällt nicht die Schule und so schockierend es sein mag, wir benötigen noch andere Berufsleute als Akademiker. Es gibt auch viele Jugendliche, welche keine Lust haben, länger in die Schule zu gehen und danach zu studieren. Manche möchten einfach arbeiten gehen und Geld verdienen. Einige sind ein Leben lang zufrieden in ihrem Job. Es gibt auch Familien, die es ihren Kindern nicht ermöglichen können, noch länger die Schulbank zu drücken. Das mag für einige unverständlich sein, aber ich kenne viele, die es nicht ermöglichen konnten. Das hat weniger mit den Studiengebühren zu tun, als vielmehr mit den Kosten, die sonst so im Leben anfallen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Wertvermittlung. In Familien von Akademikern ist ein Studienabschluss erstrebenswert, genauso wie sich ein Handwerker freut, wenn seine Kinder auch einen handwerklichen Beruf erlernen. Das erklärt auch die Studien betreffend Gymnasiasten. Es gibt also eine Vielzahl von Punkten, die es dem Staat schwer machen, eine Chancengleichheit herzustellen und trotzdem ist der Schweiz mit dem bestehenden System etwas gelungen, was seinesgleichen sucht.

Die Bedeutung von Humankapital

Das Wort Humankapital klingt erst einmal erschreckend, erklärt aber gut, weshalb die Chancengleichheit solch ein Dauerthema ist. Besonders im Wahlkampf häuft sich dieses Thema. Rolf Becker und Jürg Schoch stellten in ihrer Studie fest, dass wir das benötigte Humankapital nicht selbst erzeugen und dass Talente bei Einheimischen und Zugewanderten vergeudet werden, weshalb wir hochqualifiziertes Personal aus dem Ausland rekrutieren müssen. Auf diese ökonomisch Benachteiligten zu verzichten, komme die Allgemeinheit teurer zu stehen, als die Übernahme derer Studiengebühren. Jörg Schoch, Direktor des Gymnasiums Unterstrass und Mitinitiator des Chagall-Projekts, ist zudem überzeugt: «Das schulische Potenzial von ausländischen Jugendlichen brachliegen zu lassen, kann sich unsere Gesellschaft einfach nicht leisten.»
Es geht also bei der ganzen Chancengleichheit auch immer um politische Ziele. Finanzielle Unterstützung von Frühförderprogrammen, Elternbildung oder auch Stipendien werden damit angesprochen. Auch die Sprachkenntnisse der Migrantenkinder sind immer wieder ein Thema und all diese Bereiche lassen sich politisch nutzen.
Ich hoffe, dass bei allen Entscheidungen das Kindeswohl bedacht wird und wir Lösungen finden. Zudem erachte ich die Vielfalt als erhaltenswert, gerade in unserem seit jeher multikulturellen Land, welches sich international aus meiner Sicht gut behauptet.

Streben wir also nicht nach Chancengleichheit, sondern nach Chancengerechtigkeit.

Geht EUREN Weg mit EUREN Kindern nach bestem Wissen und Gewissen, nutzt die Möglichkeiten und fragt um Unterstützung, denn viele der geforderten Angebote bestehen schon. Wie anfänglich zitiert, zählen schlussendlich die Taten und wer möchte, kann meist auch etwas tun.

Michael Berger arbeitet als Schulischer Heilpädagoge und ist als Lernberater tätig. Zudem unterstützt er Eltern und Lehrpersonen rund um das Thema Lernen wie auch im sonderpädagogischen Bereich mit seiner Plattform www.gezielt-lernen.ch.