Zunächst waren alle begeistert von den Möglichkeiten der Digitalisierung. Dann sprach eine Zeit lang jeder nur noch von den Gefahren der digitalen Medien, also von der Kehrseite des Fortschritts. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Aber die Auswirkungen auf die Lesekompetenz durch Social Media muss man wohl im Auge behalten.
Hauptsache Lesen!
«Mein Kind liest keine Bücher mehr und hängt nur noch am Smartphone oder dem Tablet», klagt eine Mutter. «Die schulischen Leistungen meines Sohnes haben in letzter Zeit abgenommen, das muss mit diesem Social Media zusammenhängen», mutmasst ein Vater. Wir kennen beide Fälle nicht konkret. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die Aussagen so absolut gemacht werden können, wie sie hier gefallen sind.
Klar, ich habe die Erfahrung auch schon gemacht. Als ich meiner zwölfjährigen Tochter einen Vortrag hielt, sie solle doch besser ein echtes Buch lesen, als sich durch Youtube zu klicken, meinte sie lapidar: «Hättest du das gemacht, wenn es in deiner Kindheit schon Handys gegeben hätte?» Hypothetische Fragen sind immer eine Knacknuss, aber wenn ich ehrlich zu mir bin: vermutlich nicht. Zu verlockend, zu gross, zu bunt ist das digitale Angebot. Die sehr viel spannendere Frage ist aber: Hätte ich trotz Youtube, Tiktok und so weiter als Konkurrenz zu Büchern später selbst angefangen zu schreiben oder nicht? Hätte es also meinen Lebensweg beeinflusst?
Zeitverlust ist kaum das Problem
Wenn es «nur» darum geht, dass soziale Medien Zeit wegnehmen, die man für etwas anderes nutzen könnte, muss man die Romantik begraben, die man oft gegenüber «früher» hegt. Es gab auch in der analogen Zeit sehr viele mögliche Ablenkungen. Ich bin neben einem Fussballplatz aufgewachsen, und vermutlich hätte ich noch viel mehr Bücher geschafft, wenn ich nicht durchs offene Fenster gehört hätte, wie gerade ein Spiel läuft, bei dem ich mitmachen könnte. Fussballer wurde ich keiner, Bücher hingegen habe ich schon geschrieben. Sprich: Manchmal legen wir vielleicht auch zu viel Sorge in eine Momentaufnahme. Die Ablenkung war vielleicht sogar die benötigte Ruhepause, um das Lesen als Erlebnis danach wieder wahrnehmen zu können. Wir vergessen ja gerne: Unsere Kinder lesen in der Schule sehr viel. Vielleicht kein Buch am Stück, aber sie werden pausenlos mit Geschriebenem konfrontiert. Und auch im Web warten viele Buchstaben, wenn auch nicht gedruckt.
Die Frage ist daher nicht unbedingt, wovon uns digitale Spielereien abhalten, sondern was passiert, wenn wir diese nutzen.
Lesekompetenz leidet
Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Smartphone in der heutigen Ausprägung und den neuesten Möglichkeiten eine relativ neue Technologie ist und deshalb Langzeiterfahrungen fehlen. Das, was wir sicher wissen: Die Lesekompetenz in der Schweiz hat sich alles andere als verbessert. Bei der letzten Pisa-Studie, bei der die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit denen der OECD-Staaten verglichen werden, lag unser Land hinter anderen zurück. Gelesen wird bei uns aber überdurchschnittlich viel – aber eben anders. Gibt es da einen Zusammenhang?
Der Hirnforscher Peter Gerjets kann auf eigene Versuche verweisen, die zeigen, was beim Leseprozess passiert. Gefragt sei dort das «Arbeitsgedächtnis», das er in einem Interview mit SRF als eine Art inneren Schreibtisch beschrieben hat. Dort werden Gedanken und Informationen sortiert. Gerjets sagt, dass die Messung von Augenbewegungen und Hirnströmen eines klar gezeigt haben: «Dieser innere Schreibtisch wird beim Lesen digitaler Texte ungleich stärker belastet als bei gedruckten Texten.»
Die Erklärung dafür ist relativ simpel. Während ein Buch aus Buchstaben auf Papier besteht, erwartet uns im Web viel mehr. Neben dem reinen Text finden sich oft Bilder, weiterführende Links und natürlich Werbeanzeigen. Diese können wir nicht einfach ausblenden, zumindest unbewusst nehmen wir sie wahr. Das löst laut dem Hirnforscher Impulse aus, man überlegt sich instinktiv, was man als Nächstes anklicken soll, wohin es einen danach zieht. Dass solche Ablenkungen – Gerjets spricht auch von Verführungen – nicht helfen, einen Text wirklich zu verstehen, scheint logisch. Und zwar selbst dann, wenn man sie ignoriert und nicht anklickt. Auch diese Handlung kostet Energie, indem man seine Impulse unterdrückt.
Gehirn als «Muskel» trainieren
Der Forscher kommt zum Schluss, dass gedruckte Texte eine bessere Leseunterstützung liefern. Nicht zuletzt, weil die Seiten und Seitenzahlen eine klare Orientierung ermöglichen. Weil es keine Ablenkung in Form anderer Optionen gibt, lernen wir, uns nicht ablenken zu lassen, wir stärken den «Muskel» Gehirn.
Doch genau wie Peter Gerjets kommen viele Experten letztlich dennoch zum Schluss, dass diese Erkenntnis nicht heissen soll, das digitale Lesen sei nur des Teufels. Denn was oben negativ skizziert wurde – die Fülle von verschiedenen Medien auf engem Raum –, kann natürlich auch sinnvoll genutzt werden. Dank der Digitalisierung lassen sich Lehrmaterialien schaffen, die ein Thema in Text, Bild, Ton, Video zugleich erfassen. Das muss pädagogisch richtig gemacht werden, damit sich Schüler nicht verlieren, aber wenn das gelingt, ist es ein Gewinn. Zugleich müssen sie aber dafür auch geschult werden, und das wiederum erfordert digitale Kompetenzen bei den Lehrkräften.
Das eine tun, das andere nicht lassen: Darauf läuft es hinaus. Man kann im World Wide Web durchaus schlauer werden, und den Umgang damit muss man ohnehin erlernen, weil kaum mehr ein Berufsbild ohne das auskommt. Aber die eigentliche Lesekompetenz erwirbt man besser mit analogen Medien. Wie das Eltern lösen, ist eine individuelle Frage. Das ganz altmodische Zeitkonto, das definiert, wie viel Zeit für das eine und für das andere aufgewendet werden soll, ist vielleicht nicht einmal die schlechteste Lösung.