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Krisen und Rituale: Wenn das Fass zu überlaufen droht…

Familienkonflikte, Schulprobleme, Existenzängste – die Schulschliessungen und die Corona-Krise waren bzw. sind für viele Familien eine grosse Herausforderung. Rituale können helfen, der Familie mehr Sicherheit und Geborgenheit zu geben.

Bild:©Lucky Business/sstk

Die Corona-Krise hat ihre Spuren hinterlassen. Auch in vielen Familien. Nadine Fesseler-Besio, Geschäftsleiterin der ElternLehre in Bern, erlebte diese Entwicklung in den letzten Monaten hautnah mit. Sie gab Referate und Elternbildungskurse, zudem erhielten sie ein Stimmungsbild von den Besucherinnen und Besuchern der Eltern-Kind-Cafés in und um Bern. Auf niederschwelliger Ebene bieten diese Cafés Eltern die Möglichkeit, sich von Fachpersonen zu Erziehungs- und Familienthemen beraten zu lassen. «Wir stellten unter anderem eine zunehmende Vereinsamung von gewissen Familien fest, vor allem, wenn ein Migrationshintergrund im Spiel ist», erzählt Nadine Fesseler-Besio. Manche Eltern seien zudem schlecht vernetzt und trauten sich aus Schamgründen nicht, um Hilfe zu bitten, wenn sie nicht mehr weiterwissen. «Die sozial benachteiligten Familien haben klar am meisten unter den Corona-Massnahmen gelitten.» Rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen steht zudem unter hohem Stress, wie die Pro Juventute Stress-Studie vom Juli 2021 ergeben hat. Prüfungen und Hausaufgaben, aber auch der Vergleich mit den anderen und Zukunftsängste, Mobbing sowie Streit in der Klasse sind gemäss der Studie schulische Faktoren, die den Stress der Kinder und Jugendlichen messbar erhöhen.

Wie im Hamsterrad

Neben der Schule sorgen ebenso Konflikte oder die beruflichen und finanziellen Sorgen der Eltern bei Kindern für emotionalen Stress. Familien aus dem Mittelstand hingegen seien zwar in der Corona-Zeit weniger von Existenzängsten betroffen gewesen, so Nadine Fesseler-Besio, doch die Schliessung der Schulen und das damit verbundene «Home Schooling» habe zu einer starken Doppelbelastung für die Eltern geführt. «Ich habe manche Mütter in der Beratung gehabt, die sich wie in einem Hamsterrad fühlten und dabei alles richtig machen wollten.» Oftmals war das Familienleben von Aggressionen, Wut und fehlender Selbstfürsorge geprägt. «Wir erhielten oftmals Telefonanrufe von verzweifelten Eltern mit Teenagern, weil die Situation in der Familie zunehmend explosiv war.»

Wie haben die Kinder die beiden Lockdowns und die Coronakrise aus Sicht von Nadine Fesseler-Besio erlebt? «Hier gab es grosse Unterschiede», berichtet die Geschäftsführerin der ElternLehre, «für manche Kinder waren die Schulschliessungen fatal, weil sie zu Hause nicht den nötigen Halt fanden, andere richteten sich unbeschwert und zufrieden damit ein.» Deshalb plädiert Nadine Fesseler-Besio, die 19 Jahre als Sekundarlehrerin unterrichtete, dafür, dass diesen Kindern in den Schulen ein Gefäss zur Verfügung gestellt wird, wo sie unterstützt und begleitet werden. «Es ist wichtig, dass in solchen Zeiten die Lehrperson besonders präsent ist, und zwar nicht nur per E-Mail, sondern auch mit persönlichem, telefonischem Kontakt.» Im Gegensatz zu kleineren Kindern, die noch mehr auf die Eltern fixiert sind, suchen Jugendliche den Kontakt zu ihren Gleichaltrigen, um über Probleme und Ängste zu sprechen. «Die Jugendlichen brauchen solche Erfahrungen im Aussen, deshalb sollte man ihnen gegenüber grosszügig sein mit sozialen Kontakten, sei es off- oder online», empfiehlt Nadine Fesseler-Besio.

Bleibende Familienkrisen

Die Erfahrungen rund um die Coronakrise haben zu bleibenden Krisen in den Familien geführt. Manche Beziehungen seien dabei gar zerbrochen, weil die ständige Nähe und täglichen Konflikte zwischen Eltern und Kindern das Fass zum Überlaufen brachten. «Aus der Jugendpsychiatrie wissen wir, dass viele Jugendliche stark unter den Lockdowns und auch unter den Unsicherheiten der Coronakrise gelitten haben», erzählt Nadine-Fesseler-Besio. Besonders Familien, die bereits vorher mit Konflikten zu kämpfen hatten, zeigten sich besonders anfällig für Eskalationen und Beziehungsbrüche. Aber auch in intakten, «gesunden» Familien kamen viele Eltern und Kinder während der Lockdowns und Quarantänen an ihre Grenzen.

Orientierung und Sicherheit

Was tun, wenn das Fass zu überlaufen droht? Wenn Eltern und Kinder unter Schulschliessungen, Konflikten und Existenzängsten leiden? «Rituale sind ein gutes Mittel, um den Kindern Orientierung und Sicherheit zu geben», sagt Nadine Fesseler-Besio. Studien zeigen, dass geregelte Abläufe, Routinen und Rituale im Familienalltag sich positiv auf das körperliche und seelische Wohlbefinden der Kinder – egal welchen Alters – auswirken. Rituale sind symbolische, szenisch-geistige Handlungen, die helfen, gemeinsam über Krisen hinwegzukommen. «Mit kleineren Kindern kann man zum Beispiel am Abend Bilanz ziehen und überlegen, was einem der Tag an schönen Dingen so alles beschert hat», schlägt Nadine Fesseler-Besio vor. Dies fokussiere zum einen auf das positive Empfinden der täglichen Erlebnisse und stärke die Verbindung zwischen Kopf und Herz. Aus der Neurobiologie wisse man, dass ein positiver Fokus auf den vergangenen Tag eine grosse Wirkung zeige, wenn man es wiederhole. Manfred Spitzer, Direktor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Ulm, bestätigt, dass das Leben für Kinder stressfreier wird, wenn es – dank Ritualen – vorhersehbar ist. Die Stress- und Depressionsforschung stellte fest, dass Bewegungsrituale im Alltag helfen, Stress und Konflikte besser zu bewältigen. Wertvoll sind zum Beispiel kleine Spaziergänge in der Natur oder auch ein Ausdauer- und Konditionstraining. «Man muss sich bewusst Zeit nehmen dafür und dies in den Alltag einbauen, denn je unruhiger und gestresster man selbst ist, desto weniger nimmt man sich diese wichtige Zeit der Entspannung», sagt Nadine Fesseler-Besio. Bewegung sei natürlich auch für Kinder ein Segen, um den Kopf frei zu machen – zum Beispiel mit einem Trampolin oder einem Spielparcours. Auch kleine Rituale, beispielsweise beim Essen oder in der Natur, sind wertvoll und geben dem Alltag eine Struktur. Kleine Kinder lieben die abendlichen Gutenachtgeschichten, die ihnen die Eltern am Bettrand vorlesen. Wichtig sei, so Nadine Fesseler-Besio, dass auch die Kinder bei den Ritualen mitbestimmen können.

Eine Familie mit vielen Ritualen

Auf kreative Weise meisterten Frida Reich, Bloggerin für Schule und Elternhaus Schweiz, und ihre Familie mit zwei erwachsenen und zwei Kindern im Alter von sieben und zehn Jahren die coronabedingten Schulschliessungen. Als das Homeschooling Realität wurde, verwandelte die Mutter, die auch als Eventmanagerin tätig ist, kurzerhand ein Zimmer in eine Schulstube und organisierte dort den Heimunterricht. «Wir machten einen Event daraus. Das machte den Kindern Spass und erleichterte ihnen den Umgang mit der neuen Situation.» Frida Reich, die mit ihrer Familie auf einem Bauernhof lebt, versuchte, der herausfordernden Situation stets mit einer positiven Einstellung zu begegnen. «Weil es nichts hilft, wenn man jammert, ging ich möglichst locker mit der Situation um. Dies übertrug sich dann auch auf unsere Kinder.» Rituale spielen in ihrer Familie eine wichtige Rolle. Entsprechend häufig werden sie im Alltag der sechsköpfigen Familie gepflegt – natürlich angepasst auf das Alter der Kinder. Dazu gehören zum Beispiel das Vorlesen von Geschichten für die beiden Jüngsten, der «Mittagschill» nach dem Mittagessen, das Sofa-Kuscheln am Sonntagmorgen oder der traditionelle Apéro am Freitag um 16 Uhr als Höhepunkt der Woche. Zur Winter- und Sommersonnenwende schreiben alle Familienmitglieder auf einen Zettel, von was sie sich trennen oder was sie in Zukunft besser machen wollen. Dann werden die Zettel im Feuer verbrannt. «Auf diese Weise versuchen wir, unseren Kindern eine Struktur und Sicherheit zu vermitteln. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf ihr Wohlbefinden, sondern ebenso auf ihre Beziehung zur Schule aus», ist Frida Reich überzeugt.

Beziehung zwischen Eltern und Lehrpersonen

Die Schulschliessungen haben vielerorts das Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Eltern verändert, ist die ElternLehre-Geschäftsführerin überzeugt. «Viele Eltern haben realisiert, was die Lehrpersonen in der Schule alles leisten. Dadurch hat sich meiner Meinung nach das Rollenbild der Lehrpersonen verändert.» Das Engagement einer Lehrperson sei angesichts von Schulschliessungen und Fernunterricht entscheidend für den Lernerfolg. Die Lehrpersonen müssten nach Wegen suchen, um ihre Schülerinnen und Schüler die nötige Unterstützung zu bieten. Besonders wichtig sei dies bei leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern mit wenig Unterstützung zuhause, die oft nicht über die nötigen Strategien und den Antrieb für den Schulstoff verfügten.

www.elternlehre.ch

Ideen für Rituale in der Familie

Das Guten-Morgen-Ritual beinhaltet zum Beispiel, das Spiegelbild anzulächeln und es zu loben. Gemeinsam macht es noch mehr Spass!

Nach der Schule tut eine Pause gut, um Abstand zu gewinnen und sich zu erholen. Beim Spielen an der frischen Luft können sich die Kinder austoben und entspannen. Eine festgesetzte Zeit für die Schularbeiten am eigenen Schreibtisch hilft dabei, diese (oft wenig geliebte) Aufgabe zu erfüllen.

Nicht nur die Mahlzeit selbst kann zum Ritual werden. Ein gemeinsamer Spruch oder Reim und das kurze Fassen an den Händen ist nicht nur in den meisten Kitas vor dem Essen üblich, sondern lässt sich auch zu Hause problemlos umsetzen.

Vor Weihnachten bietet sich der Adventskranz an, um als Familie zur Ruhe zu kommen, zum Beispiel indem man Geschichten vorliesst, eine CD hört oder gemeinsam Lieder singt.

Läuten Sie das Wochenende mit einem bestimmten Abendessen ein. Vielleicht wird der Freitagabend zum Pizzaabend, oder es gibt immer ein Eis zum Nachtisch.

Wie wär’s mit einem gemeinsamen Spieleabend am Freitag oder Samstag?

Versöhnungsritual: Ihre Kinder haben sich gestritten, oder Sie sind verärgert über Ihr Kind, weil es nicht gehorcht hat? Kochen Sie einen speziellen «Versöhnungstee» (z. B. Rotbusch Karamell), und trinken Sie gemeinsam eine Tasse. Dabei lässt es sich gut reden. Danach umarmen Sie Ihr Kind, oder die Geschwister geben sich die Hand – und die Sache ist erledigt.

Pyji-Tag: Das Ritual ist schnell erklärt: Nur Zähneputzen ist erlaubt, aber Anziehen und Rausgehen nicht. Man «muss» den ganzen Tag Hörspiele hören, Lego spielen, abhängen und lesen.

Buchtipps

Kinder brauchen Rituale

So unterstützen Sie Ihr Kind in der Entwicklung. Stressfrei durch den Familienalltag. Empfohlen von: Akademie für Kindergarten, Kita und Hort.
Melanie Grässer, Eike Hovermann August 2015, Humboldt Verlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-86910-634-2, CHF 33.90

Das große Buch der Rituale

Den Tag gestalten – Das Jahr erleben – Feste feiern – Ein Familienbuch
Claudia Pfrang, Marita Raude-Gockel 24.09.2007, Kösel Verlag, 368 Seiten, ISBN 978-3-466-36772-6, CHF 37.90

Schule und Elternhaus Schweiz (S&E)

Eltern eine Stimme geben

Als Elternorganisation der deutschsprachigen Schweiz vertritt Schule und Elternhaus Schweiz (S&E) auf nationaler Ebene die Anliegen der Eltern zu Themen rund um die Schule – und dies seit über 60 Jahren. S&E Schweiz fördert zusammen mit den kantonalen, regionalen und lokalen Sektionen die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule, Behörden und Eltern. S&E ist Patronatgeber des Berufswahl-Portfolios.

www.schule-elternhaus.ch