Artikel / Themen

Langeweile – das «Super Food» für das kindliche Gehirn

Heute Schwimmen, morgen Fussball, einen Tag später Klavierunterricht: Die Agenda vieler Kinder sind häufig komplett voll. Langeweile oder Freizeit? Fehlanzeige. Wie verbreitet ist Freizeitstress bei Kindern? Und wie schädlich ist er überhaupt? Lulzana Musliu-Shahin, Verantwortliche Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung Pro Juventute, erklärt, weshalb hierzulande jedes dritte Kind gestresst ist.

Bild: © Maria Sbytova/shutterstock.com

Die Kinder besuchen ab vier Jahren den Kindergarten – und dann fangen meist die Hobbys an. Ist das überhaupt sinnvoll, doch relativ früh damit anzufangen?

Kinder möchten vor allem gerne mit anderen Kindern Zeit verbringen und das sollte man als Familie fordern. In welchem Umfang und bei welcher Aktivität, findet man am besten im Gespräch mit seinem Kind heraus. Mag es vielleicht besonders gerne Musik, dazu tanzen oder will es immer klettern und im Wald Zeit verbringen? Gemeinsam findet man die richtige Aktivität.

Montag Flötenstunde, Dienstag Schwimmunterricht, Mittwoch ein Zoobesuch, Donnerstag Jugi und freitags Fussball – die Wochentage der Kinder sind in manchen Fällen übervoll. Was können die Folgen sein?

Als Erwachsene sollten wir uns bewusst werden, wie der eigene Umgang mit Zeit auf Kinder wirkt. Wenn Kinder nicht immer unterhalten oder mit Aktivitäten überhäuft werden, lernen sie wieder aus eigener Kraft, mit freier Zeit umzugehen. So können Kinder der Leere, die Langeweile als Merkmal in sich trägt, wieder mit Ideenreichtum begegnen.

Wann merke ich als Mutter oder Vater denn, ob mein Kind überfordert ist?

Sie werden es sicher vom Kind hören oder auch in der Verhaltensänderung bemerken. In einer Studie haben wir bei Pro Juventute herausgefunden, dass jedes dritte Kind in der Schweiz gestresst ist. Tritt Stress verstärkt auf, geht er auf Kosten der psychischen und auch physischen Gesundheit. Im Vergleich mit den anderen befragten Gleichaltrigen sind Kinder und Jugendliche mit hohem Stressniveau deutlich stärker durch Ängstlichkeit und Unsicherheit, ein geringes subjektives Wohlbefinden sowie eine geringe Selbstwirksamkeits-Wahrnehmung belastet. Sie schlafen schlechter, klagen über Bauchweh oder Kopfschmerzen.

Und kann auch das Gegenteil eintreffen – dass es «unterfordert» ist? Ich meinem Kind also zu wenig ermögliche?

Das ist häufig eine grosse Angst von Eltern, die unbegründet ist. Langeweile ist nicht per se etwas Schlechtes für ein Kind. Kinder haben noch einen natürlichen Umgang mit dem Herumhängen und dem Nichtstun. Sie besitzen eine Wertschätzung für die Langeweile, die verloren geht, wenn Eltern Kinder ständig zur Aktivität auffordern und sie mit den unterschiedlichsten Hobbys überbuchen.

Wie sieht eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung aus?

Es gibt nicht die sinnvolle Freizeitbeschäftigung, da jedes Kind und seine Interessen individuell sind. Wichtig ist, dass das Kind mitbestimmen und mitgestalten kann und es auch Zeit hat, auch einmal «nichts» zu tun und sich zu langweilen. Denn Langeweile ist «Super Food» für das Gehirn, die entschleunigt und entspannt und so neue Kräfte freisetzt.

Die Kinder probieren gerade in den Anfangszeiten viele verschiedene Sachen aus. Die Freude bleibt manchmal aber genauso schnell wieder auf der Strecke. Was sollten die Eltern tun – die Kinder zum Weitermachen anspornen oder doch lieber etwas anderes wählen lassen?

Das gehört zur Lernerfahrung dazu und das sollte man als Eltern so weit als möglich unterstützen. Wichtig ist, dass gerade in der Freizeitbeschäftigung für das Kind nicht zu viel Druck aufgebaut wird – es geht ja schliesslich um die Freizeit. Da darf sich ein Kind austoben und auch erholen und auch einmal etwas anderes machen wollen.

Manche Eltern haben fast «Angst», ihrem Kind könnte einmal langweilig sein. Sie gewähren in den Ferien täglich ein Bespassprogramm, jeden Nachmittag kutschieren sie ihren Nachwuchs zu irgendwelchen Trainings – weshalb ist das häufig zu beobachten?

Diese Angst vor der Langeweile ist völlig unbegründet. Langeweile hat ein falsches Image. Dabei setzt es wie erwähnt Kräfte frei und ist wichtig für die Entwicklung. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der viele Eltern Angst haben, ihr Kind nicht genügend gefördert oder Dinge ermöglicht zu haben.

Haben Sie noch Tipps an die Eltern, wie sie das Thema vielleicht etwas entspannter nehmen können?

Wenn wir Langeweile als genüssliche Möglichkeit erkennen, Kreativität und seelisches Gleichgewicht zu fördern, kann Langeweile ein wichtiger Bestandteil der Work-Life-Balance von uns und unseren Kindern werden.