Zensuren sind Grund für Freudensprünge, aber auch für bittere Tränen. Fallen die Noten in den Keller, sind nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern am Anschlag. Dabei gibt es gute Gründe, weshalb man Zensuren nicht überbewerten darf.
Schlechte Noten: Familie im Stress?
Eine Sechs in der Matheprüfung oder im Aufsatz regt wohl niemanden auf. Bei einer Drei sieht das ganz anders aus. «Unsere Tochter Laura hatte seit Beginn der Schulzeit Mühe in der Mathematik. Ab Mitte der vierten Klasse zogen wir einen Nachhilfelehrer bei. Was uns fast zur Verzweiflung brachte, war, dass Laura die Aufgaben zu Hause scheinbar ohne Probleme lösen konnte. An den Prüfungen konnte sie das Gelernte nicht mehr abrufen. Im Zeugnis hatte sie dann eine Vier. Trotz Nachhilfe, trotz lernen. Laura war untröstlich und auch ich hätte weinen können», gesteht die dreifache Mutter Rahel Känzig. «Das tägliche Pauken, die halbjährlichen Standortgespräche mit der Lehrerin und der totale Nullfortschritt hatten mich und Laura an den Rand der Verzweiflung gebracht.» Als Mutter habe sie sich als Versagerin gefühlt. Nicht nur die Leistung an sich habe sie geplagt, sondern auch Zukunftsängste: Wie würde Rahel so zu einer guten Ausbildung kommen? Wenn sie jetzt schon Nachhilfe brauchte, wie würde sie dann in der Oberstufe zurechtkommen?
Schlechte Noten – schlechte Eltern?
Mütter und Väter nehmen sich selbst oft als Versager wahr, wenn das Kind nicht gut in der Schule ist. Das ist einer der Gründe dafür, weshalb für Eltern die Noten der Kinder sehr wichtig sind. Eindrücklich schildert dies auch Heidemarie Brosche, Primarlehrerin und Autorin des lesenswerten Buches «Warum es nicht so schlimm ist, in der Schule schlecht zu sein»: «Vielleicht quälen Sie sich auch mit dem Gedanken, Sie selbst seien (mit)schuld an der Misere. Das schlechte Gewissen schlägt zu. Haben Sie sich zu viel oder zu wenig um das Kind gekümmert? Haben Sie gerade dieses Kind vernachlässigt? Haben Sie gerade in dieses Kind zu grosse Hoffnungen gesetzt?» Bildungsforscher bestätigen, dass Mütter und Väter sich selbst als Versager wahrnehmen, wenn ihr Kind nicht gut in der Schule ist. Und betonen, dass Eltern sich darüber klar sein müssen, dass schlechte Schulnoten nicht automatisch eine Bankrotterklärung für ihre Erziehungsleistungen sind! Mehr Selbstbewusstsein tut also not – und eine gute Portion Gelassenheit. Bloss ist das nicht so einfach, schliesslich geht es um die Zukunft der Kinder, um Glück und Erfolg. Eltern befürchten, dass das Kind den Übertritt an die gewünschte Schule oder später den gewünschten Abschluss in der Sekundarschule, am Gymnasium oder in der Lehre nicht schafft – und was dann? Kein Wunder boomt der Nachhilfemarkt, oft ist schon eine Viereinhalb Anlass für Nachhilfestunden in Mathematik oder Französisch.
Hoher IQ = gute Noten = Superjob?
Da stellt sich die zentrale Frage: Sind gute Schulnoten überhaupt eine Voraussetzung für Berufserfolg? «Gute Schulnoten können die Türen zu bestimmten Einstiegschancen und Ausbildungsstellen öffnen. Langfristig ist die Beziehung zwischen Schulnoten und Berufserfolg nachweislich klein», sagt dazu Ulrike Stedtnitz, Psychologin und Expertin für Potenzialentwicklung. Dies belegen zahlreiche Beispiele: zum Beispiel Entertainer Harald Schmidt, ist super gebildet, hat aber die 12. Klasse wiederholt. Beeindruckend auch der Schweizer Ivar Niederberger, Unternehmer und mehrfacher Millionär, der wegen seiner Legasthenie und seinem Tourette-Sydrom in der Sonderschule landete. Seine Erfahrungen gibt er im Buch «Tun – Glück schreibt man mit drei Buchstaben» weiter.
Ulrike Stedtnitz weist in ihrem Buch «Mythos Begabung» denn auch darauf hin, dass Schulnoten mit grosser Vorsicht interpretiert werden müssen: «Die Benotungspraxis variiert von Lehrperson zu Lehrperson. Es gibt nur sehr wenige Schulmodelle (…) wo externe Prüfer und Leistungsbewerter beigezogen werden und dadurch eine gewisse standardisierte Qualitätskontrolle der Benotungspraxis erreicht wird. Deshalb beeinflussen an den weitaus meisten Schulen das Verhalten des Schülers und damit persönliche Sympathien massgeblich die Notengebung.»
Was Eltern dauernd befürchten, ist also in der Wissenschaft schon längst bewiesen: Noten sind nicht fair, oder vielleicht etwas weniger hart formuliert, sie sind nicht objektiv. Dies bestätigt Winfried Kronig, Professor an der Universität Freiburg, der mehrere Studien über den Bildungserfolg und die Leistungsbeurteilungen publiziert hat: «Es gibt Dutzende von Studien die mit unterschiedlichen Methoden die Prüfungs- und Beurteilungspraxis an öffentlichen Schulen wissenschaftlich untersuchten. Ihre bis jetzt unwiderlegten Ergebnisse waren ernüchternd. Sie zerstörten in der Fachwelt nachhaltig den Glauben an die Möglichkeit der genauen Abbildung von schulischen Leistungen. Zu sehr stellten sich Leistungsbeurteilungen immer wieder als anfällig für verschiedene Verzerrungen heraus.»
Sind Worte besser als Zahlen?
Spielt es für Kinder demnach auch keine Rolle, ob die Leistungsbeurteilung in Noten oder Worten oder Kreuzen erfolgt? «Ich würde nicht so weit gehen, dass es überhaupt keine Rolle für das Kind spielt», sagt Winfried Kronig, «vielleicht könnte es sein, dass unterschiedliche Kinder auf die Form der Rückmeldung unterschiedlich sensibel reagieren. Vielleicht empfinden manche Buchstaben weniger belastend als Zahlen. Generell aber dürfte gelten, dass in Worten das höhere Stigmatisierungspotenzial gilt als in Zahlen. Was allerdings die Grundproblematik der Leistungsbeurteilung betrifft, ist es tatsächlich so, dass es keine Rolle spielt, ob sie Noten, Buchstaben oder Wörter nehmen. Die vielen Verzerrungen und Probleme sind bei allen Formen in gleichem Mass gegeben.» Lehrkräfte sind immer durch Vor-Einstellungen, sprich Vorurteile, gefährdet, gleiche Leistungen unterschiedlich zu belohnen. Das ist bei allen Menschen so: Jeder lässt sich bei Bewertungen von Erwartungen beeinflussen. Bei Lehrern wird das Problem allerdings bei der Leistungsbeurteilung bedeutsam. Eine Studie von Oldenburger Wissenschaftlern konnte sogar nachweisen, dass ein Zusammenhang zwischen Namen und Notengebung besteht. Aufgaben, die unter dem Namen Maximilian verfasst wurden, erhielten eine bessere Bewertung als die gleichen Aufgaben unter dem Namen Kevin.
Neue Klasse, andere Noten: Referenzgruppenfehler
Auch die hohen Ansprüche an eine ganzheitliche Beurteilung macht das System störungsanfällig: Eine Note soll eine individuelle Rückmeldung, ein Vergleich zu anderen, eine Prognose über künftige Lernentwicklung und ein Motivationsinstrument sein. Ein weiteres Problem bei der Beurteilung stellt sich im Umfeld: Noten teilen mit, wo ein Schüler im Vergleich zu seinen Klassenkameraden steht. In einer tendenziell leistungsschwachen Klasse kann ein mittelmässiger Schüler schon mal eine gute Fünf erzielen, in einem leistungsstarken Verbund werden seine Noten entsprechend schlechter ausfallen.
In der Fachwelt spricht man dann vom «Referenzgruppenfehler». Winfried Kronig: «Dieser Fehler entsteht dadurch, dass Schulklassen sich in ihrem Leistungsspektrum unterscheiden. So kann es durchaus vorkommen, dass der leistungs-stärkste Schüler einer Klasse zu den schwächsten gehören würde, sässe er in einer anderen Klasse. Lehrpersonen können jedoch dieses Leistungsspektrum auf der Bewertungsskala nicht angemessen abbilden, da sie ihrem besten Schüler keine tiefe Durchschnittsbewertung geben können.»In der Schweiz gibt es keine einheitlichen Vorgaben für die Benotung von Schülerinnen und Schülern, je nach Kanton, Ort und Schulstufe gelten verschiedene Regelungen. In den meisten Kantonen gibt es die Noten 6 bis 1, im Kanton Waadt reicht die Skala von 10 bis 1. Gewisse Schulen bewerten die Prüfungen mit Worten, mit Kreuzen oder mit Punkten und vergeben Noten nur im Zeugnis. Der «Lehrplan 21», der 2014 in Kraft treten soll, strebt eine gewisse Vereinheitlichung an und setzt eher auf eine gesamtheitliche Beurteilung von Kompetenzen.
Fokussieren auf die Stärken
Die gängigen Beurteilungsmethoden weisen also nach-weislich erhebliche Mängel auf. Das kann ja eigentlich für Mütter und Väter nicht gerade eine Beruhigung sein. Aber es relativiert doch vieles. Eine gute Schulbildung ist zwar wichtig. Aber noch viel wichtiger ist ein Kind, das an sich und seine Stärken glaubt und seine Schwächen akzeptieren kann. Das fordert von Eltern eine ausgewogene Mischung aus Gelassenheit und Unterstützung: hier hilft es immer wieder, das Kind als Ganzes zu sehen und nicht nur als Schüler.