Artikel / Themen

Schulunterricht zwischen Lockdown und digitalen Welten

Die Corona-Pandemie hinterlässt Spuren – auch an den Schulen. Besonders der «Lockdown» Mitte März hat vieles im Schulbetrieb auf den Kopf gestellt. Gleichzeitig wurden die Eltern stark gefordert. Ein Rückblick aus verschiedenen Perspektiven.

Bild: © Aleksandra Suzi/shutterstock.com

«Ich hatte den Eindruck, dass die Schule zu Beginn des Lockdowns keinen Plan hatte, wie der Fernunterricht aufgezogen werden sollte», erzählt Sabine Meni, Mutter eines 14- und 19-jährigen Sohnes in Zofingen sowie Co-Präsidentin bei Schule und Elternhaus Schweiz. Der Fernunterricht habe je nach Schule unterschiedlich gut funktioniert. Zeitweise sei der Schulserver aufgrund hoher Beanspruchung überlastet gewesen. Dann fehlte es offenbar besonders am Anfang an der nötigen Koordination zwischen Lehrpersonen und Klasse. «Die Kinder sind in dieser Zeit meiner Ansicht nach bildungsmässig verhungert», erzählt Sabine Meni und kritisiert, dass zum Teil die Aufgaben nicht richtig besprochen und erklärt wurden. Vielmehr wurden dann – so Sabine Meni – die Eltern in die Pflicht genommen: «Es lag schlussendlich an uns, die Aufgaben mit den Kindern zu besprechen.» Mit der Zeit habe die Schule jedoch dazugelernt und sei dann immer besser organisiert gewesen. Als die Familie von Sabine Meni Anfangs November selber mit dem Virus infiziert war, wurden die Kinder vorbildlich von den Lehrpersonen online betreut. Sogar die Schulleitung habe sich gemeldet, ergänzt Sabine Meni.

Support der Eltern war entscheidend

Als das Verbot des Präsenzunterrichts am 13. März 2020 ausgesprochen wurde, mussten die Schulen innerhalb von wenigen Tagen den Notfall-Fernunterricht hochziehen. Dies ist laut Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), nicht überall gleich gut gelungen, vor allem aufgrund mangelnder Infrastruktur. «Ausserdem musste zuerst bei jedem Kind abgecheckt werden, wie es zu Hause erreichbar war und wie das Schulmaterial zu den Schülerinnen und Schülern gelangen konnte. Dann musste bei den jüngeren Kindern darauf geachtet werden, dass die Zeit am Bildschirm nur mit Mass eingesetzt und das Lernen mit vielfältigen Lernangeboten interessant gemacht wurden», berichtet Dagmar Rösler, «während bei den älteren Kindern das Lernen online über eine längere Zeit organisiert werden konnte». In dieser Anfangsphase stand und fiel vieles auch mit der Umsetzung im Elternhaus. Dabei stellte Dagmar Rösler fest: «Hier war es entscheidend, sowohl für Lehrpersonen als auch für die Kinder und Jugendlichen, welcher Support zu Hause geleistet werden konnte.» Gleichzeitig war es Lehrerinnen und Lehrern sehr bewusst, dass Eltern teilweise arbeiteten und gleichzeitig ihre Kinder zu Hause betreuen mussten. An vielen Orten habe aber die Kommunikation hervorragend funktioniert. Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler indes sei während des Lockdowns abgetaucht und nicht erreichbar gewesen. «Wir haben in den letzten Monaten beobachtet, dass die Schere zwischen Kindern aus bildungsnahen und solchen aus bildungsfernen Elternhäusern nochmals stark auseinandergegangen ist.»

«So gut wie nichts» gelernt

Welchen Einfluss hatten Schulschliessung, Schule auf Distanz und keine oder nur wenige Kontakte zu Lehrpersonen sowie Mitschülerinnen und Mitschülern auf die Unterrichtsqualität und den Schulerfolg? Mitte November schreckte in diesem Zusammenhang die niederländische Studie des Leverhulme Centre for Demographic Science auf. Sie kam zum Schluss, dass die Kinder im Fernunterricht «so gut wie nichts» gelernt hatten. Die Studie basiert auf Daten aus den Niederlanden, wo alle Primarschülerinnen und -schüler jeweils zu Beginn des Jahres und vor den Sommerferien in bestimmten Fächern einem landesweiten Test unterzogen wurden. Die ausgewerteten Daten haben ergeben, dass die Kinder und Jugendlichen im Vergleich zu den Vorjahren im Schnitt etwa einen Fünftel weniger gelernt haben. Laut der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm sind diese Resultate auch auf die Schweiz übertragbar.

Zwei Gruppen unter den Schülern

Das Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der Pädagogischen Hochschule Zug hat mit dem «Schul-Barometer» das aktuelle Stimmungsbild an den Schulen in der Schweiz, Deutschland und Österreich erfasst. In der Online-Befragung haben über 7100 Schulleitungen, Lehrpersonen, Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie weitere Akteure aus dem Bildungswesen der drei Länder teilgenommen. Bei den Befunden im Zusammenhang mit dem Fernunterricht während des Lockdowns ergab die Befragung unter den Schülerinnen und Schülern zwei Gruppen: Die einen begrüssen es, in ihrem eigenen Lerntempo und -rhythmus selbstbestimmter zu arbeiten. Die zweite Gruppe bekundet Probleme, unter anderem im Hinblick auf die Strukturierung ihres Tages, ihrer Aufgaben und ihrer Motivation. Ihre tägliche Lernzeit liegt deutlich unter dem Durchschnitt. «Der Lockdown bzw. das Verbot des Präsenzunterrichts hat auch in der Schweiz auf eindrückliche Weise gezeigt, dass der Schulbetrieb nicht einfach ins Netz verlegt werden kann», betont Dagmar Rösler.

Chancengerechtigkeit in Gefahr

Angesichts solcher Umfrageergebnisse und Erkenntnisse stellt sich die Frage der Chancengerechtigkeit in der Bildung. Viele Eltern fühlten sich von den Lehrpersonen alleingelassen. Nicht in allen Familien ist es zudem gelungen, ihren Kindern das nötige Lernumfeld zu ermöglichen. Gabriela Heimgartner, Co-Präsidentin von Schule und Elternhaus Kanton Bern, hat während des Fernunterrichts als Lerncoach Kinder aus bildungsfernen Familien begleitet. Die Chancengerechtigkeit erachtet sie als «grosses Problem»: «Eine Chancengerechtigkeit konnte schon vor der Pandemiekrise vielerorts nicht gewährleistet werden. Durch die Schulschliessung erfuhr die Chancengerechtigkeit eine markante Verschlechterung.»

Nicht nur eine Frage der Technik

Durch Verlegung des Präsenzunterrichts während des Lockdowns ins Internet waren bzw. sind viele Schulgemeinden gezwungen, ihre technische Infrastruktur innerhalb kurzer Zeit aufzurüsten. Es wurden Wochenpläne auf Lernplattformen digital zur Verfügung gestellt, Lieder und Verse via Videokonferenz geübt oder Youtube-Channels zu Mathematiktheorien eröffnet. Doch mit der Technik allein sei es nicht getan, findet Dagmar Rösler: «Die Technik ist das eine, das andere ist eine umfassende Weiterbildung der Lehrpersonen wie auch eine entsprechende Ausbildung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern. Nur so können die grossen Investitionen auch nachhaltig Wirkung zeigen.» Aufgabe der Schule sei es, trotz oder gerade wegen des digitalen Wandels auf sozialer, kreativer und kommunikativer Ebene ein gutes Gleichgewicht zu finden. Somit trage die Schule – so Dagmar Rösler – viele wichtige Aufgaben mit, die nicht auf digitale oder technische Art vermittelt werden können.

Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern

Während des Lockdowns spielten die Eltern eine zentrale Rolle für die Kontaktpflege und den Fernunterricht. Folglich waren die Eltern in dieser Zeit stark gefordert. Die Kantonale Elternmitwirkung-Organisation Zürich lancierte eine Umfrage, bei der die Antworten der Eltern sehr unterschiedlich ausgefallen sind. Je nach Schule und Lehrperson fühlten sich die Eltern sehr unterstützt oder total alleine gelassen. Einig waren sich gemäss der Umfrage alle, dass die Schulkinder ohne Begleitung der Eltern nicht lernen konnten. Hat die Corona-Krise einen Einfluss auf das Verhältnis bzw. die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus? «Ja», findet Dagmar Rösler, «ich hatte den Eindruck, dass an vielen Orten die Beziehung zwischen Eltern und Lehrpersonen gestärkt worden ist». Dies habe sicher damit zu tun, dass alle am gleichen Strick ziehen mussten und miteinander kommunizierten, um das Lernen der Kinder gemeinsam voranzutreiben. «Ich denke, hier hat sich eine neue Ebene entwickelt, die – wie ich hoffe – uns allen erhalten bleiben wird», sagt die LCH-Zentralpräsidentin.

Keine grossen Änderungen wahrgenommen

Etwas nüchterner betrachtet Sabine Meni die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern: «Trotz aller Erfahrungen aus der Corona-Pandemie bzw. aus dem Lockdown habe ich bis jetzt keine grossen Änderungen im Verhältnis zwischen Schule und Eltern wahrgenommen. Und ich rechne ehrlich gesagt auch nicht damit.» Sabine Meni kritisiert, dass die Schulen auch während der Sommerferien zu wenig unternommen haben, sich auf die bevorstehenden Herausforderungen vorzubereiten und die Eltern mit ins Boot zu holen. «Man hätte zum Beispiel das Gespräch mit den Eltern suchen können, um mehr über ihre Situation und Bedürfnisse zu erfahren. Schliesslich waren sie ja während des Lockdowns ein wichtiger Partner für den Fernunterricht.»

Bildung sicherstellen, Betreuung garantieren

Schule und Elternhaus Schweiz forderte in ihrer Stellungnahme vom 21. September 2020 von den kantonalen Behörden oder Schulen klare Regeln im Umgang mit Erkältungen, Husten und Fieber bei Schulkindern. Wann müssen die Kinder zu Hause bleiben? Wie lange? Wer muss wann informiert werden? Wie wird in dieser Zeit die Bildung sichergestellt? Die Kantone Aargau und Bern beispielsweise haben auf diese Forderung eins zu eins reagiert und einen entsprechenden Plan herausgegeben. Weiter fordert S&E Unterstützung für die Eltern, wenn eine Klasse in Quarantäne ist – unter anderem mit der nötigen Anleitung der Programme und, wenn nötig, die Zurverfügungstellung von Computern und Netz. Müssen einzelne Kinder in Quarantäne oder mit leichten Symptomen zu Hause bleiben, muss die Bildung gewährleistet werden. Auch hier verlangt S&E unkomplizierte Lösungen, die den Zugang zu den Unterrichtsmaterialien sicherstellen und eine Begleitung durch Lehr- oder andere Fachpersonen ermöglichen. Weiter spricht sich S&E dafür aus, dass die Tagesschulen geöffnet bleiben, um die Betreuung der Kinder zu garantieren.

www.lch.ch
www.schule-elternhaus.ch
www.schuel-elterhaus-be.ch
www.keo-zh.ch