Zoff zu Hause, schlechte Leistungen in der Schule, null Bock auf Arbeit. Warum suchen viele Jungs die Konfrontation mit Eltern, Lehrpersonen und Gesellschaft? Was tun, wenn die Jungs «schwierig» werden?
Schwierige Jungs?
Was es heisst, drei Buben durch ihre Kindheit und Jugend zu begleiten, weiss Iris Schrepfer aus Stein AR nur zu gut. Die Mutter eines 8-, 13- und 14-jährigen Sohnes berichtet von regelmässigen Machtkämpfen mit ihren Jungs, die alle sehr bewegungsorientiert sind. «Als Mutter braucht es da ein grosses Standvermögen. Man muss immer wieder ausloten, was man tolerieren will und was zu weit geht.» An der Primarschule Jonschwil stellt Schulleiter Peter Mayer fest, dass es zwar schon immer auffällige Schüler gegeben habe, doch heute werde schneller reklamiert und dreingeschlagen. «Und als Lehrperson muss man heute mehr auf die Hinterbeine stehen, um sich durchzusetzen.» Klagen über schwierige Jugendliche und insbesondere auch über auffällige Jungs gehören seit Menschengedenken zur Pubertät. Schon die alten Griechen und Römer sollen sich über das Benehmen ihrer Jugend beklagt haben. Und auch heute eckt die Jugend an. Immer häufiger ist von schwierigen, verhaltensauffälligen und aggressiven Buben die Rede, die Eltern, Lehrpersonen und der Gesellschaft das Leben schwer machen. Ausserdem seien sie häufig nervös, unkonzentriert und depressiv-ängstlich gestimmt. Die Medizin verpasst ihnen das Etikett «ADHS» und verspricht Besserung mit Ritalin.
Freiräume und Familienstrukturen
Doch ist es damit getan? Warum sind immer mehr Jungs verhaltensauffällig und kommen mit den Anforderungen der Gesellschaft und Wirtschaft nicht zurecht? In der Fachwelt werden verschiedene Gründe zitiert, die zu diesem Problem geführt haben. Remo H. Largo, Professor für Kindermedizin und Autor von Fachbüchern, nennt unter anderem die fehlenden Freiräume für Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft. «Als Folge davon gelangen sie sehr früh in die Lebensbereiche von Erwachsenen, wo sie allerdings vor allem als Störfaktoren wahrgenommen werden», stellt Remo H. Largo fest. Einen Einfluss haben auch die veränderten Familienstrukturen in unserer Gesellschaft. Immer mehr Kinder wachsen in Ein-Eltern-Familien, also meist mit ihren Müttern auf, oder sie bewegen sich in Patchwork-Haushalten zwischen den getrennten oder geschiedenen Eltern. Die Räume der Kinder werden heute zunehmend «verinselt», das heisst: Kinder bewegen sich zwischen Wohnung, Schule, Sportverein, Musikgruppe, Freundeswohnung, Internetcafé usw. Was fehlt, ist eine feste Bleibe, wo sie zu Hause sind. In den Kinderzimmern sorgen viele Spielzeuge und später dann Elektronik für Unruhe. Manche Kinder verlieren sich in dieser fiktiven Kommunikationswelt mit Handy, TV und Internet.
Fehlende Vorbilder, mangelnde Realität
Peter Mayer stellt fest, dass in vielen Familien heute mit den Kindern alles ausdiskutiert wird. Dies sei ein typisch weibliches Verhalten. «Die Buben dagegen wollen ihre Grenzen ausloten und erfahren, wie weit sie gehen können. Finden sie diese Grenzen nicht, gehen sie immer weiter. Grundsätzlich wollen sie ihre Hörner abstossen. Doch wenn sie dies zu Hause nicht können, weil vielleicht der Vater nicht mehr bei ihnen wohnt, machen sie es halt in der Schule. Man merkt daher schon, wenn die Jungs ohne Vater aufwachsen.» Aber auch das Gegenteil – nämlich zu viel Strenge und zu hohe Erwartungen der Eltern – führt oft zu Überforderung und Frustration bei den Kindern und Jugendlichen. Der schulische Erfolg bleibt dabei auf der Strecke. Kümmern sich die Eltern indes gar nicht um die Jungs, führt dies meist zum gleichen Ergebnis. Viele kleine Jungen werden zu Hause verwöhnt, zudem fehlt ihnen ein verlässlicher Ort, an den sie sich binden können. Losgerissene, bindungsleere Verwöhnung kennzeichnet das Erscheinungsbild vieler problematischer Jungen. Fehlen in der Familie oder an den Schulen die männlichen Vorbilder, orientieren sie sich an Figuren aus Film, Fernsehen und Internet, häufig fernab jeglicher Realität. Sie verteidigen ihre Allmachtsbilder hartnäckig und verzweifelt gegen die Zumutungen der Realität. Dabei sind die Qualitäten dieser «Vorbilder» heute in der Wirtschaft kaum mehr gefragt. Deshalb lassen sich Jungs schwerer in die Gesellschaft und Wirtschaft integrieren als Mädchen, die ihren männlichen Kollegen bezüglich Kommunikation und Sozialkompetenzen meist überlegen sind. Diese Überlegenheit zeigt sich zum Beispiel bei den Bewerbungen für KV-Stellen, wo die Jungs gegenüber den Mädchen im Nachteil sind. Dass in der Schweiz 70 Prozent der Stellenangebote im Dienstleistungssektor angesiedelt sind, verschärft die Situation für männliche Jugendliche zusätzlich.
Buben lernen anders
Gründe für verhaltensauffällige und überforderte Jungs sind auch in der Schule zu finden: «Bis in die 80er-Jahre standen in den Schulen vor allem die Buben im Zentrum und wurden bevorteilt. Selbst der Zutritt ans Gymnasium war damals für Buben einfacher als für Mädchen», berichtet Remo H. Largo. Heute habe sich die Situation um 180 Grad verändert: Zwei Drittel aller Sonderschulmassnahmen sind für Jungs bestimmt; von den Gymnasiasten sind lediglich noch 40 Prozent Jungs, dafür 60 Prozent Mädchen. «Buben sind spürbar langsamer in der Entwicklung und weniger sprach- sowie sozialkompetent. Ihre schulischen Leistungen hinken meist jenen der Mädchen hintennach, obwohl sie nicht dümmer sind als die Mädchen», erklärt Remo H. Largo. Buben lernen anders als Mädchen. Nicht das Auswendiglernen liegt ihnen, sondern das konkrete Anwenden und Sammeln von Erfahrungen interessiert sie. Zudem brauchen sie viel Bewegung, um ihren motorischen Aktivitätsdrang zu befriedigen. Für Remo H. Largo hat die Einführung von Fachlehrern an den Grundschulen negative Auswirkungen auf die Entwicklung und Erziehung der Kinder an den Schulen: «Fachlehrpersonen legen das Schwergewicht auf den Stoff statt auf das Kind. Sie sind dadurch zu Fachvermittlern geworden und können kaum eine Beziehung zu den Schülern aufbauen. Zu viele Fachlehrer in einer Klasse beeinträchtigen die Beziehung zu den Kindern.» Die grosse Zahl an Lehrerinnen in der Unter- und Mittelstufe ist laut Remo H. Largo wie auch Peter Mayer kaum der Grund für das auffällige Verhalten der Buben. «Die Sensibilität der Lehrerinnen für diese Problematik ist heute gross», beteuert Peter Mayer. Iris Schrepfer bedauert, dass sich in der Schule und bei den Elterngesprächen alles um die Leistungen der Schüler, aber nicht um ihre Bedürfnisse dreht. Zudem wünscht sie sich mehr Möglichkeiten in der Elternmitwirkung.
Freiräume schaffen
Wie soll man auf diese Entwicklung reagieren? Grundsätzlich sind diese Probleme ein gesellschaftliches Phänomen, das nur über tiefgreifende Veränderungen beeinflusst werden kann. «Die Gesellschaft muss sich in Zukunft gegenüber Kindern und Jugendlichen anders verhalten als heute. Dazu gehört, ihnen die nötigen Freiräume zuzugestehen», fordert Remo H. Largo. Aber auch im Rahmen der Familie können solche Freiräume geschaffen werden, indem man den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gibt, sich mit Gleichaltrigen zu treffen, sich zu bewegen und die eigenen Interessen auszuleben. «Wir versuchen, unseren Söhnen bewusst Raum zu geben, damit sie sich austoben können. Doch oft reicht der Sportverein dafür nicht aus.» Peter Mayer von der Primarschule Jonschwil empfiehlt, frühzeitig auf das Kind in der Erziehung einzuwirken und sich bei Bedarf auch Hilfe aus der Erziehungsberatung zu holen. Ausserdem plädiert er dafür, dass Eltern und Lehrpersonen besser miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten. In Zukunft rechnet der Schulleiter damit, dass sich die Situation mit auffälligen Schülern noch verschärfen wird. Gleichzeitig hofft er auf eine Gegenbewegung, wo gewisse Werte wieder gelebt werden. Für Remo H. Largo ist in der Schweiz das duale Bildungssystem mit Berufsschule und Lehrbetrieb heute und in Zukunft ein grosser Vorteil, weil es die berufliche und soziale Integration von Jugendlichen sehr unterstützt.