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STOPP! Nicht mit mir! Wie Kinder Selbstbehauptung lernen

Es ist die grosse Pause auf dem Pausenplatz. Eine Gruppe Kinder spielt fangen, während andere auf der Bank sitzen und ihre Pausenbrote auspacken. Ein Junge geht auf ein jüngeres Kind zu, das gerade aus seiner Trinkflasche trinkt, und sagt fordernd: «Gib mir die Flasche.» Das jüngere Kind ist verunsichert. Soll es die Flasche einfach abgeben, um keinen Ärger zu riskieren, oder sich wehren und «Nein» sagen?

Bild: © Luis Molinero/shutterstock.com

Diese Situation ist nicht ungewöhnlich – und genau hier setzt das Schweizerische Institut für Gewaltprävention (SIG) mit seinen Selbstbehauptungskursen an. Das Ziel: Kinder zu stärken, ihre Meinung zu vertreten, sich gegen Übergriffe zu wehren und selbstbewusst aufzutreten. Doch wie funktioniert das eigentlich?

Die eigene Stimme finden – Selbstbehauptung als Schlüsselkompetenz

In den Kursen des SIG lernen Kinder auf spielerische Weise, ihren eigenen Willen wahrzunehmen und diesen klar zu kommunizieren. Es geht darum, ein Gespür für die eigenen Grenzen zu entwickeln und diese auch gegenüber anderen zu verteidigen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt: «Was will ich, und wie sage ich das?»

Kinder üben, «Stopp» zu sagen, wenn etwas unangenehm ist, und trainieren, ihre Meinung ohne Angst zu äussern. Auch wenn es darum geht, sich gegen Ältere oder Gleichaltrige durchzusetzen, bekommen sie das nötige Handwerkszeug an die Hand. So sollen die Kinder lernen, für sich selbst einzustehen, egal ob es um Kleinigkeiten wie das Teilen von Spielzeug oder um ernsthaftere Situationen wie Mobbing geht.

Selbstbehauptung ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Kinder in der heutigen Zeit erlernen können. «Denn nur wer weiss, was er will und wie er es kommunizieren kann, ist in der Lage, sich effektiv gegen unfaire Behandlung und Grenzüberschreitungen zu wehren.»

Vom «Stopp» bis zur Selbstverteidigung – wie läuft ein Kurs ab?

Die Kurse beginnen oft mit einfachen Übungen zur Körpersprache. Die Kinder lernen, wie sie durch eine aufrechte Haltung und festen Blickkontakt Selbstsicherheit ausstrahlen. Denn oft sind es bereits diese kleinen Veränderungen, die dazu führen, dass potenzielle Angreifer innehalten. In Rollenspielen üben sie dann, klare Ansagen zu machen – etwa «Stopp, lass das!» – und ihren Standpunkt zu vertreten.

Ein wichtiger Bestandteil der Selbstbehauptungskurse ist auch die Schulung der Wahrnehmung. Die Kinder lernen in Rollenspielen, Situationen richtig einzuschätzen und zu erkennen, wann eine Grenzüberschreitung stattfindet. Es geht darum, Warnsignale wahrzunehmen und rechtzeitig zu reagieren, bevor eine Situation eskaliert.

Natürlich wird auch geübt, wie man sich im Notfall körperlich wehren kann. Hier lernen die Kinder einfache Selbstschutztechniken, um sich aus einem Griff zu befreien oder sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen. «Es geht dabei nie darum, Gewalt anzuwenden oder jemanden zu verletzen», betont der Trainer. «Oberstes Lernziel ist die Verhältnismässigkeit. Die Kinder sollen lernen, angemessen zu reagieren und Gewalt als letztes Mittel einzusetzen.»

Ein Beispiel aus der Pause: Was tun, wenn ein Älterer Streit sucht?

Ein häufiges Szenario auf dem Pausenplatz: Ein älterer Junge nähert sich einer Gruppe jüngerer Kinder und fängt an, sie zu provozieren. Er macht abfällige Bemerkungen und schubst eines der Kinder leicht an, um eine Reaktion herauszufordern. Die Jüngeren stehen unsicher da. Sollten sie ihn ignorieren? Zurückschubsen? Oder besser weglaufen?

In den Kursen des SIG lernen die Kinder, solche Situationen einzuschätzen und die beste Reaktion zu wählen. Oft ist es der klügste Weg, dem Provokateur keine Aufmerksamkeit zu schenken und ihm auszuweichen. Selbstbehauptung bedeutet nicht immer, sich aktiv zu wehren, sondern es geht vor allem auch darum, klug auf Situationen zu reagieren und unnötige Konflikte zu vermeiden.

Die Kinder üben, wie sie ruhig bleiben und selbstbewusst sagen können: «Lass uns in Ruhe», bevor sie sich abwenden und weggehen. Wenn der Ältere weiterhin versucht, Ärger zu machen, lernen sie, sich gegenseitig zu unterstützen und gegebenenfalls einen Erwachsenen zur Hilfe zu holen. In solchen Fällen ist es keine Schwäche, auszuweichen – im Gegenteil, es zeigt Stärke und Selbstkontrolle, nicht auf jede Provokation einzugehen.

Mit Mut gegen Mobbing und Beleidigungen

Ein weiterer Schwerpunkt der Kurse liegt auf dem Umgang mit Mobbing und Beleidigungen. Kinder werden oft durch böse Worte oder abfällige Kommentare verunsichert. In den Trainings lernen sie, wie sie schlagfertig reagieren und sich nicht provozieren lassen. Es werden auch Fallbeispiele behandelt, etwa, was zu tun ist, wenn jemand den eigenen Gegenstand wegnehmen oder zerstören will.

Auch das Thema Gruppenzwang wird behandelt. Wie kann man «Nein» sagen, wenn alle anderen «Ja» sagen? Wie bleibt man sich selbst treu, ohne Aussenseiter zu werden? Die Kinder bekommen praktische Tipps, wie sie sich in schwierigen sozialen Situationen behaupten können.

Gegenüber Erwachsenen klare Grenzen setzen

Ein besonders wichtiges Thema in den Kursen ist der Umgang mit Erwachsenen – sowohl bekannten als auch unbekannten. Kinder lernen, dass es in Ordnung ist, auch gegenüber Erwachsenen «Nein» zu sagen, wenn etwas unangenehm ist oder sich nicht richtig anfühlt. Die Trainer zeigen ihnen, wie sie in solchen Situationen Hilfe holen und sich selbst schützen können.

Ein Beispiel aus den Kursen: Ein Kind berichtet von einem Nachbarn, der ihm regelmässig über den Kopf streicht, obwohl es das nicht mag. Im Training übt das Kind, höflich, aber bestimmt zu sagen: «Bitte hör auf, das mag ich nicht.» In den anschliessenden Gesprächen wird den Kindern bewusst gemacht, dass es völlig legitim ist, auch gegenüber Erwachsenen solche Grenzen zu setzen.

Viele Kinder haben das Gefühl, dass sie Erwachsenen immer gehorchen müssen. In den Kursen lernen sie, dass sie auch hier klare Grenzen setzen dürfen – natürlich in einer respektvollen, aber bestimmten Art und Weise.

Was Eltern und Lehrpersonen tun können

Die Selbstbehauptung der Kinder endet nicht nach dem Kurs. Die Eltern wie auch Lehrpersonen spielen eine entscheidende Rolle dabei, das Gelernte zu unterstützen und im Alltag zu festigen. Eltern können ihre Kinder bestärken, ihre Meinung zu äussern, und sie ermutigen, auch in schwierigen Situationen ihre Standpunkte zu verteidigen. Offene Gespräche über das Erlebte sind wichtig, um Kindern das Gefühl zu geben, dass sie ernst genommen werden.

Lehrpersonen können ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie eine respektvolle Kommunikation in der Klasse fördern und auf Mobbing und Grenzüberschreitungen rasch und konsequent reagieren, möglichst bevor eine Situation eskaliert. Ein gutes Klassenklima, in dem alle Meinungen wertgeschätzt werden, ist ein wichtiger Baustein, damit sich Kinder trauen, ihre Stimme zu erheben.

Selbstbewusst und stark – für eine gewaltfreie Zukunft

Die Selbstbehauptungskurse des Schweizerischen Instituts für Gewaltprävention helfen Kindern, sich ihrer eigenen Stärken bewusst zu werden und sich für ihre Rechte einzusetzen. Sie lernen, ihre Stimme zu finden und in schwierigen Situationen mutig zu sein – und das ist eine Fähigkeit, die ihnen ein Leben lang zugutekommt.

Zur Person

Reto Sollberger lebt in der Nähe von Solothurn und arbeitet als Kommunikationstrainer in Unternehmen und Bildungseinrichtungen – oder, wie er es selbst nennt, als «Grenzen-Setzer» für Gross und Klein. Auf retosollberger.com verrät er, wie man sich durchsetzt, ohne laut werden zu müssen. Beim Schweizerischen Institut für Gewaltprävention (SIG) unterstützt er Schulen bei der Gewaltprävention und leitet Selbstbehauptungskurse.

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