Der Anteil fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler an den obligatorischen Schulen in der Schweiz liegt derzeit durchschnittlich bei 42 Prozent. Was bedeutet diese kulturelle Vielfalt für den Schulunterricht? Welche Rolle sollten die Eltern dabei spielen?
Viel Multi-Kulti! Bereicherung oder Belastung?
Leandro (11) besucht zurzeit die fünfte Klasse der Primarschule in Zofingen. Rund ein Drittel seiner Klassenkameraden sind fremdsprachig. Seine Mutter Nicole Müller, Sozialpädagogin und Vorstandsmitglied von Schule und Elternhaus Zofingen, erachtet diese kulturelle Durchmischung der Klasse als Bereicherung: «Unser Junge profitiert davon, indem seine Sozialkompetenz gefördert wird. Nachteile beim Lernen hat er unserer Ansicht nach keine.» Nicole Müller kann den direkten Vergleich mit ihrem 13-jährigen Sohn Luca aus der dritten Bezirksschulklasse mit praktisch keinen ausländischen Schülern sowie mit ihrer achtjährigen Tochter Elena aus der zweiten Primarschulklasse mit ebenfalls wenigen Migrantenkindern ziehen. «Für die Lehrpersonen bedeutet eine Klasse mit vielen fremdsprachigen Kindern klar mehr Aufwand und Ausdauer. Denn in den ersten drei Jahren sind die sprachlichen Defizite mancher Kinder aus anderen Kulturen meist gross», so die dreifache Mutter. Nicole Müller wünscht sich, dass der Austausch zwischen deutschsprachigen und fremdsprachigen Eltern grösser wird, obwohl es sicher schwierig sei, sprachliche Barrieren zu überwinden.
Starker Anstieg seit 1990/1991
Der Umgang mit fremdsprachigen Kindern im Schulunterricht ist eine Herausforderung. Spätestens seit den Pisa-Studien ist bekannt, dass es Schweizer Schulen eher schwerfällt, das Potenzial der Kinder mit Migrationshintergrund voll auszuschöpfen und die Chancengerechtigkeit zu gewähren. In den letzten zehn Jahren hat die kulturelle Vielfalt an Schweizer Schulen deutlich zugenommen, stellt Urs Moser, Professor am Institut für Bildungsevaluation der Universität Zürich, fest. Urs Moser beschäftigt sich unter anderem mit der Förderung fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler als Forschungsschwerpunkt. Seit dem Schuljahr 1990/1991 ist gemäss Bundesamt für Statistik (BfS) der Anteil fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler in der obligatorischen Schule um 27 Prozent markant angestiegen und liegt derzeit um die 42 Prozent. Vor allem in Schultypen für schwächere Schüler sind die Schulklassen sehr heterogen zusammengesetzt. Die Kantone werden von der kulturellen Heterogenität der Schulen unterschiedlich berührt. Vor allem städtische Kantone und die Kantone der Romandie weisen laut BfS vermehrt Schulabteilungen mit vielen Schülerinnen und Schülern auf, die aus anderen Kulturen stammen. Im Kanton Zürich beispielsweise haben rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen an den Schulen einen Migrationshintergrund, wie Urs Moser informiert.
Der soziale Hintergrund zählt
Was bedeutet diese Entwicklung für den Schulunterricht? «Es ist eine grosse Knacknuss», so Urs Moser. «Diese kulturelle Vielfalt kann für den Unterricht sehr bereichernd, aber auch sehr belastend sein. Das hängt ganz davon ab, wie viel Unterstützung ein Kind von zu Hause erhält. In diesem Sinne führt die kulturelle Vielfalt an Schulen nicht per se zu Problemen oder zu einer Bereicherung. » Entscheidend für den Schulunterricht seien weniger die kulturelle Herkunft der Schülerinnen und Schüler, sondern der soziale Hintergrund. Dieser sei für die Leistungen der Kinder und Jugendlichen entscheidend. Laut Urs Moser hängen die beiden Faktoren – also die kulturellen und sozialen Hintergründe – eng zusammen. «Die kulturelle Zusammensetzung einer Schulklasse spielt keine Rolle für die Schulleistungen, weder für das allgemeine Niveau der Klasse noch auf der individuellen Ebene jedes Schülers», betont Tamara Carigiet, die sich in ihrer Dissertation mit der Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem beschäftigt hat. So gehen die Gründe für die schwächeren Schulleistungen offenbar nicht auf die unterschiedlichen Kulturen zurück, sondern seien im Gelingen der sozialen Integration der einzelnen Migrantengruppen bzw. in der Aufenthaltsdauer in der Schweiz zu suchen. «Der Migrationshintergrund oder die soziale Herkunft sind ohnehin nur einige von mehreren Kriterien, die für den Schulerfolg relevant sind. Wichtigere Rollen spielen das Geschlecht und allen voran die kognitiven Grundfähigkeiten », schreibt Tamara Carigiet in ihrer Dissertation. Andrea Aeschlimann, Mutter der 10-jährigen Marilène aus Bern, erlebt die multikulturelle Klasse ihrer Tochter als Bereicherung. Ausschlaggebend dafür sei die gute Durchmischung mit Kindern aus verschiedenen Ländern und mehrheitlich bildungsnahen Familien. «Marilène lernt in dieser Klasse den Umgang mit verschiedenen Temperamenten, Kulturen und Familienkonstellationen», sagt Andrea Aeschlimann. Als wichtig erachtet es die Mutter, die Regeln des Schulbetriebs verbindlich und konsequent durchzusetzen.
Ohne Sprache keine Bereicherung
Welches sind die Vor- und Nachteile der kulturellen Vielfalt an Schulen? Für Urs Moser bieten kulturelle und sozial gut durchmischte Klassen die Möglichkeit, Zugang zu anderen Kulturen, Religionen und Werten zu bieten. «Dies kann für die Kinder sehr bereichernd sein, falls der integrative Unterricht erfolgreich umgesetzt werden kann.» Sprechen jedoch 80 Prozent der Kinder kaum deutsch, rücken diese Vorteile in den Hintergrund, gibt Urs Moser zu bedenken. Fehlt eine gemeinsame sprachliche Basis, können die Kinder nur wenig voneinander lernen. «Diese erschwerten Bedingungen haben direkte Auswirkungen auf das Verhalten der Schüler in der Klasse. Dann ist es zum Beispiel für die Lehrperson schwierig, disziplinarische Massnahmen umzusetzen», erläutert Urs Moser. Zu den grossen Herausforderungen des integrativen Schulsystems gehört die Bereitstellung ausreichender Ressourcen für die Lehrpersonen durch Heilpädagoginnen und -pädagogen. Urs Moser weist darauf hin, dass die Schulen grundsätzlich über die nötigen Mittel verfügen, um die Probleme rund um den integrativen Unterricht zu lösen. Manchmal sei es jedoch schwierig, die vorhandenen Mittel genau auf die Bedürfnisse der Kinder und Lehrpersonen anzupassen. «Jede Schule sollte die Herausforderungen rund um den integrativen Unterricht gesamthaft lösen und die Probleme nicht auf einzelne Klassen oder gar Personen herunterbrechen», empfiehlt Urs Moser.
Abschied vom gängigen Lehrerbild
Mit einem Ausländeranteil von 60 bis 70 Prozent kennen die Lehrpersonen der Primarschule Turgi im Kanton Aargau die verschiedenen Facetten des integrativen Unterrichts. «Wir betrachten die kulturelle Vielfalt an unserer Schule als Bereicherung und Chance», betont Schulleiter Andy Wenzinger. Das Miteinander von Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen verlange nach neuen Unterrichtsformen und pragmatischen Lösungen. «Wir haben uns längst vom gängigen Bild der Lehrperson verabschiedet. Unsere Lehrerinnen und Lehrer belehren nicht, sondern sie sehen sich als Lernbegleiter und Coach. So können wir je nach Leistungsvermögen gezielt auf die Schüler eingehen», beschreibt Andy Wenzinger die Idee des individualisierten Unterrichts. Natürlich brauche es Mut, vom gewohnten Pfad des Unterrichts wegzukommen und sich auf Neues einzulassen, vor allem für langjährige Lehrpersonen, die sich von alten Mustern lösen mussten. Die Lehrpersonen von Turgi werden seit zwei Jahren von zwei schulischen Heilpädagoginnen sowie einer Schulsozialarbeiterin mit 30-Prozent- Pensum unterstützt. «Wir sind zwar personell gut dotiert», bestätigt der Schulleiter, wünscht sich jedoch vor allem beim Austausch mit fremdsprachigen Eltern mehr Übersetzungshilfe. In der Elternarbeit setzt die Primarschule Turgi ebenfalls auf neue Wege: Während früher Elterngespräche meist dann auf dem Programm standen, wenn die Schüler für Probleme sorgten, findet heute mindestens einmal im Jahr ein Gespräch mit allen Eltern statt. Pro Schuljahr treffen sich Eltern und Lehrpersonen für mindestens einen Elternabend, wo zum Beispiel über bevorstehende Stufenwechsel informiert wird. Die Schulleitung hat ausserdem ein Elternforum ins Leben gerufen, um mit den Eltern über besondere Themen rund um die Schule zu sprechen, aber auch, um sich gegenseitig kennenzulernen.
Der Erfolg des integrativen Schulunterrichts hängt stark von der Sprachförderung der Kinder und Jugendlichen ab, ist Urs Moser überzeugt. Wenn zu Hause jedoch die Sprachvorbilder fehlen und die Eltern ihre Kinder kaum oder gar nicht unterstützen können, bringen auch Fördermassnahmen nur bedingt den gewünschten Erfolg. «Deshalb empfehle ich, die Eltern so gut wie möglich miteinzubeziehen und sie bei der Förderung ihrer Kinder zu unterstützen», sagt Urs Moser. Denn: Eltern haben einen Erziehungsauftrag, indem sie zum Beispiel die Kinder ausgeruht und pünktlich zur Schule schicken, die Hausaufgaben kontrollieren und die Kinder zur Selbstständigkeit erziehen.
Weitere Infos zu Schule und Elternhaus Schweiz sowie zu den regelmässigen Kursen und Vorträgen für Eltern:
Multikulturelle Schulen
Ein Thema mit vielen Facetten, ein Thema, das immer wieder zu emotionalen Diskussionen in der Öffentlichkeit führt. Denken wir beispielsweise an das Kopftuch: Sollen Schulen das Kopftuch-Tragen verbieten oder zulassen? Wie verhalten wir uns bei der Kippa, der Kopfbedeckung jüdischer Knaben? Oder die Frage des Christenkreuzes in unseren Klassenzimmern: Darf eine Lehrperson das Christenkreuz aus dem Klassenzimmer entfernen? Was meinen wir zum Schwimmunterricht: Sollen oder müssen die Schulen alle Kinder zum Schwimmunterricht zwingen?
Bei solchen und ähnlichen Fragen sind die Meinungen in der grössten Elternorganisation der deutschen Schweiz ähnlich kontrovers wie dies in der öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt. Wichtig für uns ist, dass die Diskussionen im gegenseitigen Respekt geführt werden. Trotzdem müssen wir bei Fragen wie dem Schwimmunterricht konsequent bleiben, d.h. alle Kinder müssen den Unterricht besuchen.
Die Schulen haben die Aufgabe, den Unterricht Religionen und Ethik (dieses Fach hat in den Kantonen verschiedene Namen) ernst zu nehmen und zu beachten, dass heute Religionen unterrichtet werden. Deshalb erachten wir es als wichtig, dass diese Unterrichtseinheit nicht von kirchennahen Personen erteilt wird.
Heinz Bäbler-Trinkler, Vorstand Schule & Elternhaus Schweiz