Soll mein Kind ein Instrument lernen? Mit dieser Frage beschäftigen sich im Laufe der Zeit wohl viele Familien – und nicht alle kommen auf die gleiche Antwort. Musikalische Bildung sei für diverse Entwicklungsschritte entscheidend, erklärt Annette Dannecker, Musiklehrerin und Co-Präsidentin des Schweizerischen Musikpädagogischen Vereins, im Interview.
Warum musikalische Förderung so wichtig ist
Musik verbindet – und grundsätzlich kann jedes Kind ein Instrument lernen, sagt man. Wie gross ist das Interesse nach wie vor, welches Sie als Expertin wahrnehmen? Immerhin gibt es mittlerweile viele Konkurrenzangebote wie beispielsweise Sportvereine.
Das Problem beginnt schon bei Ihrem ersten Satz: Ja, grundsätzlich kann jedes Kind ein Instrument lernen. Aber da Instrumentalunterricht Einzelunterricht ist, ist es kostspieliger als zum Beispiel Sportunterricht, der meist in Gruppen stattfindet. Dies ist echt ein Hindernis für den Musikunterricht und eine jahrelange Forderung, dass Musikunterricht stark subventioniert werden muss, damit sich das Kind nach seinen Interessen und nicht nach dem Einkommen der Eltern entscheiden kann. Aber auch wenn sich ein Kind frei entscheiden kann, gibt es solche, die Sport bevorzugen – das ist völlig OK. Meine Wahrnehmung ist, dass viele Kinder gerne ein Musikinstrument lernen wollen, aber es dann nur ein Bruchteil davon tut. Es spielen bei der Entscheidung viele verschiedene Faktoren mit.
Bereits Babys und kleine Kinder lieben die Musik. Wie wichtig ist es, dass sie mit Musik in Berührung kommen?
Das finde ich sehr wichtig. Musizieren ist ein universelles Tun. Es steckt in allen Menschen drin. Wir wollen uns alle musikalisch ausdrücken, sei das mit Singen oder mit einem Instrument. Das älteste Musikinstrument, das man gefunden hat, ist eine Knochenflöte und etwa 43 000 Jahre alt. Gesungen oder getrommelt haben unsere Vorfahren wahrscheinlich noch viel früher. Musik ist eine Sprache, die zwar gelernt werden muss, jedoch ein grosses Potenzial in sich birgt.
Wie wichtig ist die Musikschule im Hinblick auf die Bildung der Kinder und Jugendlichen?
Es gab eine gross angelegte kanadische Studie, die kurz zusammengefasst zum Schluss kam, dass musikalische Bildung die Kinder signifikant gescheiter macht. Und zwar war der Effekt bei allen schulischen Fächern messbar und bei intensivem Instrumentalunterricht am grössten. In der 12. Klasse waren die intensiv musizierenden Instrumentalschüler bereits ein ganzes Schuljahr weiter als diejenigen, die keinen Instrumentalunterricht besucht hatten!
Musikalische Bildung fördert die kognitive, aber auch die motorische, feinmotorische und soziale Entwicklung eines Menschen enorm.
Was nehmen die Kinder und Jugendlichen für ihren weiteren Weg mit, wenn sie eine Musikschule besuchen?
Da fallen mir jetzt gerade 1 000 Dinge ein, ich versuche, mich kurzzufassen:
Erstens lernt das musizierende Kind, selbstständig zu arbeiten. Es lernt, Strategien zu entwickeln, um an sein Ziel zu kommen oder, wie es am besten lernt. Und praktiziert das beim Üben auch laufend. Das hilft ihm, wenn es zum Beispiel Englisch-Vokabeln büffeln muss. Beim Musizieren taucht irgendwann dieser «Flow» auf. Das ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl, das sich einstellt, wenn man etwas sehr gerne macht. Wenn ein Musikant ein gewisses Niveau hat, kann er durch Spielen eines geliebten Stückes in diesen Flow geraten. Und das hilft bei der Bewältigung von negativen Gefühlen stark. So kann er sich selbstständig aus einem Strudel von negativen Gefühlen herausholen, wieder in ruhigere Gewässer segeln oder auch einfach nach einem anstrengenden Arbeitstag abschalten und zur Ruhe kommen. Und das Schöne daran ist, und das ist jetzt meine Erfahrung aus 20 Jahren Unterricht: Es gibt begabte Schüler, die immer gleich alles können – und es gibt die fleissigen. Oft sind diejenigen, die es in der Schule nicht einfach haben, weil sie irgendeine Lernschwäche haben, es gewohnt, hart für ihren Erfolg zu arbeiten. Beim Instrumentalunterricht kommt man aber mit reiner Begabung nicht weit. Wird eine neu erlernte Fähigkeit nicht zu Hause eingefuchst, kann sie im Augenblick nicht präzise abgerufen werden. Und dann, so nach drei, vier Jahren, überholen die lernschwachen Kinder plötzlich ihre begabten Kollegen und dürfen schon bei den Grossen mitspielen, während die begabten (aber faulen) noch bei den Anfängern sind. Was für ein Triumph! Es gibt natürlich auch die begabten und fleissigen Überflieger, von denen ist hier natürlich nicht die Rede! Das Erlernen jeglicher neuer Fähigkeit lässt im Gehirn neue Nervenbahnen wachsen. Dies ist besonders bei Jugendlichen wichtig, da in dieser Lebensphase das Gehirn umstrukturiert wird. So werden motorische und kognitive Bahnen eben aus- statt abgebaut. Ganz nebenbei profitiert auch die ältere Generation, die eher von Nervenbahnenabbau betroffen ist. Da kann Musizieren ein wichtiges Gegenmittel sein.
Bei Kindern, die vielleicht kein Interesse haben, ein Musikinstrument zu lernen: Sollen die Eltern sich dafür einsetzen, dass sie es ausprobieren?
Das ist eine schwierige Frage. Ich würde sagen, wenn es an der Musikschule einen Tag der offenen Tür gibt, wo das Kind mal auf allen Instrumenten spielen kann, wieso nicht. Es kann so jede Menge Erfahrungen und Eindrücke sammeln. Und vielleicht entdeckt es ein Instrument, welches ihm gefällt.
Wie schafft man es, dass das Kind mit Spass bei der Sache bleibt?
Das ist eine Illusion. Es kommt irgendwann der Augenblick, wo das Kind nur noch aufhören möchte und das Instrument am liebsten auf dem Grill braten würde. Aber das ist für uns Musiklehrer der besondere Augenblick. Dann stehen meist grosse Fortschritte an. Wenn Eltern ihr Kind in diesem Augenblick abmelden, ist das wirklich nur schade. Es verpasst den Sprung auf ein höheres Niveau. Und damit eine wichtige Lernerfahrung: Wenn die Eltern dann völlig verzweifelt bei mir anrufen und wir gemeinsam MIT dem Kind einen Plan entwerfen, was ES jetzt braucht, um nicht aufzuhören, sondern weiterzumachen, fühlt es sich erstens sehr ernstgenommen. Es muss sich hinsetzen und Gedanken machen, was es jetzt braucht und es formulieren. Dies ist ein enormer Schritt in der Selbstwahrnehmung und der Selbstreflexion. Und wichtig fürs ganze weitere Leben. Glück haben also diese Kinder, deren Eltern in diesem Augenblick nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, sondern als verlässliche Partner für ihr Kind da sind. Was sonst noch hilft, ist: Das Kind ernst nehmen. Wenn es alleine üben will, soll es alleine üben, wenn es gerne Zuhörer hat, kann es ja das Radio beim Abwaschen oder Bügeln ersetzen.
Welche Tricks helfen noch dabei, damit das Kind weiter übt?
Es ist oftmals hilfreich, wenn man zu Beginn des Schuljahres feste Übungszeiten abmacht, wo das Kind sagt, wann es üben kann und das dann aber auch eingefordert wird. Klar gibt es immer wieder Ausnahmen, aber wenn sich das Üben so wie Hausaufgaben oder Zähneputzen im Alltag automatisiert hat, fallen die vielen Diskussionen weg. Wenn noch andere Familienmitglieder musizieren, und man ein Familienorchester gründet, ist das auch eine grosse Motivation. Der Lehrer hilft sicher gerne beim Suchen nach geeigneter Literatur. Oder, ab einem gewissen Niveau kann das Kind in einem Ensemble oder einer Band mitspielen. Auf ein Ziel hinzuarbeiten, kann eine grosse Motivation sein.
Ab wann ist der ideale Zeitpunkt da, das Interesse zu wecken und ein Instrument zu erlernen?
Das Interesse wecken können Eltern schon im Kleinkinderalter. Der Zeitpunkt des Erlernens kommt sehr auf das Kind an. Es gibt Kinder, die wollen schon im Kindergarten ein Instrument lernen und es gibt solche, die möchten zuerst noch ausgedehnt mit den Kollegen spielen, bevor sie sich für ein Instrument interessieren. Dann gibt es Instrumente, mit denen kann schon früh begonnen werden, bei anderen lohnt sich das Warten. Deshalb ist es sehr wichtig, sich Rat bei einer Fachperson zu holen.
Einige Instrumente sind mit relativ hohen Kosten verbunden, die sich nicht jede Familie leisten kann. Gibt es hier Lösungen, die sich anbieten?
Da würde ich unbedingt in der Musikschule oder bei der Lehrperson nachfragen. Vielleicht gibt es einen Instrumentenfonds, eine Instrumentenbörse oder die Lehrperson hat, da sie das Problem ja schon kennt, gute Kontakte – vielleicht auch zu einem Occasionshändler oder zu ehemaligen Schülern, die ihr Instrument gerne verkaufen würden.