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Was Kinder und Eltern zum Glücklichsein brauchen

Der Entwicklungspsychologe Mauritz Daum hat auf die Frage nach dem Glück der Kinder mit der originellen Antwort reagiert: «Schokolade und eine Schaufel, um Löcher zu graben.» Schokolade, so Daum, stehe für die emotionale und soziale Entwicklung, die Schaufel für Werkzeuge, mit denen sich Kinder in ihrer Umwelt entwickeln können.

Bild: © Robert Kneschke/shutterstock.com

Wenn ich hier die Frage nach dem Glücklichsein der Eltern und Kinder frage, so könnte man oberflächlich gesehen sagen, dass die Eltern glücklich sind, wenn es auch die Kinder sind. Folgt man allerdings den unzähligen Ratgebern für Eltern, so wird Erschreckendes sichtbar. Was man da alles tun sollte für die emotionale, soziale und motorische Entwicklung der Kinder. Welche Frühförderung, welche Kurse für ihr künftiges erfolgreiches Leben sollten kleine Kinder besuchen? Wie reagieren auf die Tendenz zu allzu viel Medienkonsum? Da wird einem schwindlig. Man gerät in Versuchung, von Ratschlägerei oder von einer völligen Überforderung der Eltern zusprechen. Glück und Zufriedenheit beiderseits erreicht man damit nicht.

Es ist für die meisten Eltern kein Problem, den Kindern «eine Schaufel in die Hand zu drücken», ihnen aber zu sagen, wo sie gemeinsam mit anderen Kindern spielen und unbeaufsichtigt Löcher graben können, erweist sich als äusserst schwierig, ja als unmöglich. Wer kann seinem Kind schon sagen: «Geh doch im Freien spielen!», statt vor dem Bildschirm zu sitzen. Was ich damit sagen will, für die Zufriedenheit, das Glück der Kinder und der Eltern braucht es nicht nur Zuwendung und Zärtlichkeit, sondern auch Raum. Fehlt ein kinderfreundlicher Aussenraum, eine Quartierstrasse, auf der die Kinder auch ohne elterliche Begleitung spielen können, kommen Eltern in Bedrängnis.

Der Raum eine vernachlässigte Dimension der frühen Kindheit

Untersucht man, was die Politik der frühen Kindheit, die Wissenschaften, die Raumplanung, die Erziehungs- und Verkehrswissenschaften zum Thema Raum sagen, so kommt man zum Schluss, dass man für dieses Thema kein Interesse zeigt, respektive Jahrzehnte zurückblättern muss, um Aussagen zu finden. Der grosse Tenor lautet «kleine Kinder gehören an die Hand der Mutter», der Raum spielt da keine Rolle. Haben Sie schon einmal im Zusammenhang des verdichteten Bauens die Frage entdeckt: «Was geschieht mit den Kindern?» Ja, eine einsam gebliebene Bemerkung des Berner Architekten Georg Precht im «Tages-Anzeiger» vom 7. März 2016 macht die Grenzen des verdichteten Bauens deutlich, wenn es bemerkt, dass höher bauen aufhört, wenn es um Kinder geht.

Wie gravierend die Vernachlässigung kleiner Kinder ist, zeigt sich, wenn man Kinder, die unbegleitet im Freien mit anderen Kindern spielen können, mit Kindern vergleicht, die immer begleitet werden müssen, wenn sie ins Freie wollen.

Unsere Untersuchungen zeigen: Kinder, die in einer Umgebung aufwachsen, wo sie mit Kindern aus der Nachbarschaft unbegleitet spielen können, sind beim Eintritt in den Kindergarten wesentlich selbstständiger. Sie können sich in motorischer, sozialer und kognitiver Hinsicht besser entwickeln. Die Eltern dieser Kinder sind bereit, ihre Kinder schon früh unbegleitet in den Kindergarten gehen zu lassen, während die Eltern der anderen Kinder vielfach die Meinung vertreten, dass sie ihre Kinder auch in die Schule begleiten werden. Dass dazu auch das Auto verwendet wird, ist zu erwarten.

Es ist allerdings nicht der Ort für Vorwürfe an die Eltern. Die häufige Begleitung und ständige Betreuung der jüngeren Kinder hat wenig zu tun mit einer fragwürdigen Überbetreuung, sondern ist eine Folge der bestehenden Situation, in der es kaum Raum gibt, jüngere Kinder loszulassen. Vorwürfe als Helikoptereltern, als Taximütter zu formulieren, ist fehl am Platz. Der Zwang des ständigen Zusammenseins von Mutter und Kind, oder Vater und Kind, der fehlende Freiraum führt zwangsweise zu einer sehr engen Beziehung. Man könnte auch von einer erzwungenen, verkrampften Bindung sprechen. Der Besuch einer Kita ist dabei sicher wichtig, aber er kann, sofern ihn die Eltern bezahlen können, die Bedürfnisse des Kindes inhaltlich und zeitlich nicht erfüllen. Kinder brauchen nicht nur gute Beziehungen zu den Eltern, zu anderen Erwachsenen und anderen Kindern, sie brauchen für eine gesunde Entwicklung auch Raum, in dem sie unbeaufsichtigt spielen können. Diesen können die Eltern nicht schaffen.

Das Wohnumfeld als Ort gesellschaftlicher Entwicklung

Das unbegleitete Spiel der Kinder im Freien fördert nicht nur die Motorik der Kinder. Die Kinder lernen auch das Zusammenleben miteinander und die Lösung zu entstehenden Konflikte. Man will am nächsten Tag wieder miteinander spielen. Kinder mit anderer Hautfarbe werden dabei problemlos integriert. Das Spiel der Kinder in der Wohnumgebung führt zu einer wesentlichen Entspannung im familiären Zusammenleben. Das für viele Eltern lästige Problem des übermässigen Medienkonsums wird weitgehend gelöst, wenn Kinder draussen mit anderen Kindern spielen können.

Das gemeinsame Spiel der Nachbarskinder führt auch zu engeren Kontakten und gemeinsamen Aktivitäten der dort wohnenden Erwachsenen. Man lernt sich besser kennen. Nachbarschaftliche Hilfe und gegenseitige Betreuung kleiner Kinder werden aktiviert.

Es ist nicht zu verstehen, wieso der Staat sich nicht mit dem Problem des Spiels kleiner Kinder in unmittelbarer Wohnungsnähe beschäftigt und diese fördert. Es fehlt am Interesse an der räumlichen Situation der Kinder in den ersten Lebensjahren. Der Mikrozensus, der die zielgerichteten Aktivitäten der Kinder misst, setzt erst mit sechs Jahren ein. Die bestehenden Gesetze für Spielmöglichkeiten im Wohnumfeld werden unter dem Druck des verdichteten Bauens weitgehend aufgeweicht. Die eigenständige Erreichbarkeit von Aussenräumen wird durch allzu schwere und ständig geschlossene Türen sowie ungeeignete Aufzüge und Treppenhäuser und allzu hohe Lagen der Wohnungen für Familien mit kleinen Kindern weitgehend verunmöglicht. Anstelle einer Förderung des Spiels und der Bewegungsförderung jüngerer Kinder «vor der Haustüre» werden Angebote unterstützt, die Kinder nicht selbstständig erreichen können, was zu vermehrtem motorisierten Freizeitverkehr führt und in eine umweltfeindliche «Bring- und Hohlgesellschaft» mündet.

Es gibt zahlreiche, zum Teil auch kostengünstige Möglichkeiten, die Situation jüngerer Kinder im unmittelbaren Umfeld der Wohnungen zu verbessern und damit die Chancen der Kinder zu reifen Persönlichkeiten heranzuwachsen zu verbessern. Dass damit auch der soziale Zusammenhalt und die Umweltfreundlichkeit unserer Gesellschaft wesentlich verbessert würden, ist eine erfreuliche Folge der räumlichen Aufwertung örtlicher Gegebenheiten. Sicher, die Vision, die wir hier beschrieben haben, hat utopische Züge. Vieles davon lässt sich aber zum Wohl der Kinder und der Familien schrittweise realisieren. ++

1Quelle: Oskar Jenni (HG). Kindheit: eine Beruhigung. S. 247, Kein&Aber, Zürich-Berlin

Zur Person:

Dr. Marco Hüttenmoser ist Erziehungswissenschaftler und Kunsthistoriker. Er gründete und leitet die Forschungs- und Dokumentationsstelle «Kind und Umwelt» in Muri (AG), die Fragen der Mensch-Umwelt-Beziehung untersucht. Dabei stehen Probleme im Vordergrund, die jüngere Kinder erfahren, wenn sie ihre Umwelt eigenständig erkunden und ihre wachsenden Fähigkeiten erproben wollen. Das Thema «Kind und Verkehr» erhält dabei eine zentrale Bedeutung. www.kindundumwelt.ch

Buchtipp

Unter dem Thema «Kindheit ohne Raum» fordert Marco Hüttenmoser eine grundlegende Neuorientierung der Wissenschaft und Politik in Bezug auf die ersten fünf Lebensjahre. Kinder, die im Laufe der ersten fünf Lebensjahre das nahe Umfeld der Wohnung eigenständig erkunden und dort mit anderen Kindern spielen können, entwickeln gute motorische und soziale Fähigkeiten. Das Spiel der Kinder in der Nachbarschaft fördert das Miteinander der Erwachsenen. Das ständige Zusammensein der Kinder mit den Eltern und der Zwang, die Kinder überall hinzubringen, führt hingegen zu einer umweltbelastenden «Bring- und Holsituation». Das Buch zeigt grundlegende Lösungen auf. Erschienen im LIT Verlag Wien, ISBN 978-3-643-80338-2.