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«Wir können unsere Kinder nicht vor allem bewahren und beschützen»

Ein verletzendes Foto, ein Unwort – Klassenchats können ganz schnell zur Mobbingfalle werden. Doch wie schafft man es als Eltern, den Kindern die nötige Freiheit zu lassen, aber die Kontrolle nicht zu verlieren? Mediencoach Dr. Iren Schulz von «Schau Hin!» gibt entsprechende Tipps.

bild: © SpeedKingz/shutterstock.com

Klassenchats in WhatsApp und Co haben nicht nur Vorteile. Der verstärkte Austausch kann auch schnell zur Mobbingfalle werden. Salopp gefragt: Ist Mobbing in der heutigen Zeit einfacher als früher? Oder sind wir hellhöriger geworden?

Richtig ist, dass es Mobbing schon immer in unserer Gesellschaft gibt – aber sich dieses Phänomen durchaus zugespitzt hat, und das aus zwei Gründen. Zum einen sicher, weil wir in einer sehr starken Leistungsgesellschaft leben, in der jede/r der/die Stärkste, Beste, Schönste sein möchte. Und andere dafür beiseite geschoben werden. Und zum anderen hat sich Mobbing mit den digitalen Medien verändert, weil man aus der Anonymität heraus jemanden herabwürdigen und blossstellen kann, weil Opfer manchmal gar nicht wissen, wer schon alles davon weiss und wer genau die Täter sind.

Wie können solche Klassenchats oder Gruppen zur Gefahr werden?

In Klassenchats geht es oft heiss zu und her und es wird schnell viel gesagt – allein diese grosse Menge an Kommentaren ist schon eine grosse Herausforderung und oft störend. Und dann geht es eben um Kommentare, aber auch Bilder oder Videos, die jenseits unserer Vereinbarungen liegen, wie wir normalerweise und «im echten Leben» miteinander umgehen: Beleidigungen, Ausgrenzungen, Blossstellungen oder auch gewalthaltige Inhalte können da schnell die Runde machen.

WhatsApp wäre eigentlich erst ab 16 Jahren vorgesehen. Dennoch wird die App häufig von deutlich jüngeren Kindern genutzt. Welche Regeln können Eltern festlegen?

Bei allen Apps und digitalen Anwendungen ist es wichtig, dass Eltern sich gut überlegen, ob ihr Kind das schon kann – und das ist nicht (nur) technisch gemeint, sondern vor allem auch kognitiv und kritisch-reflektierend. Kann mein Kind durchschauen und verstehen, was alles für Möglichkeiten und Verbindungen an WhatsApp und Co. hängen? Was passiert wo mit meinen Daten? Das ist ganz schön komplex. Auf der anderen Seite sind eben Apps wie WhatsApp sehr interessant, weil sie einen Dauerdraht zu den Freunden legen und man unabhängig von den Eltern miteinander kommunizieren kann. Wenn man das also erlaubt und möglich macht, dann sind gute Regeln unerlässlich: Das Profil so sicher und privat wie möglich einstellen, besprechen, was auf keinen Fall verschickt und gezeigt wird und eben auch, wie man mit anderen in so einer Onlinekommunikation umgeht.

Gibt es auch in diesem Bereich Angelegenheiten, welche die Kinder ihren Eltern nicht mitteilen wollen? Wie gross darf die Privatsphäre sein?

Auf jeden Fall haben Kinder ein Recht auf Privatsphäre und das bezieht sich auch auf die Kommunikation in und mit digitalen Medien. Lesen Eltern die Chats der Kinder mit und tun dies sogar noch heimlich, ist dies ein ziemlich grosser Vertrauensbruch. Der kann dazu führen, dass die Kinder auch nicht mehr alles erzählen werden, auch nicht, wenn etwas «schief gegangen» ist. Insofern ist es besser, alles transparent miteinander zu besprechen. Und auch klar zu machen, welche Sorgen wir als Eltern haben und gute Regeln miteinander finden.

Die Gratwanderung ist sehr schmal, wie Sie sagen. Eltern können ihren Kindern die digitalen Medien nicht grundsätzlich verbieten, ansonsten können die Kinder schnell ausgegrenzt werden und nicht dazugehören. Wie schafft man es, dennoch die Kontrolle zu behalten? Ist das überhaupt möglich?

Eine lückenlose Kontrolle wird nicht möglich sein, vor allem nicht mit dem Älter- und Selbstständigwerden der Kinder. Und diese Kontrolle ist auch nicht entwicklungsfördernd – denn Kinder lernen nur, mit etwas umzugehen, wenn sie die Möglichkeiten und Räume bekommen, zu lernen und zu probieren. Sicher in einem guten Rahmen und mit der Option, immer die Eltern zu Rate zu ziehen – aber nicht mit den Eltern als «Dauerspione» im Nacken.

Was wären sinnvolle Tipps, die Sie Eltern zum Thema mitgeben könnten?

Grundsätzlich wichtig ist es, dass Eltern ihre Kinder bei ihren ersten Schritten in die Medienwelt begleiten, von Anfang an gute Regeln etablieren und immer zu Gesprächen bereit sind und ein offenes Ohr haben. Wir Eltern müssen uns klar sein, dass wir unsere Kinder nicht vor allem bewahren und beschützen können, sondern dass es wichtig ist, die Kinder zu stärken und ihnen einen «Werkzeugkoffer» in die Hand zu geben, mit dem sie gut und sicher durch die Medienwelt kommen.